Euthanasie während der Nazi-Diktatur - Neues Buch über 18 Opfer aus Buchen in der Stadthalle vorgestellt

Neues Buch über Euthanasie schließt Lücke in der Geschichte Buchens

Das Buch „Im Sammeltransport nach unbekannter Anstalt verlegt“ ist dem Schicksal von 18 Euthanasie-Opfern aus Buchen während der Nazi-Diktatur gewidmet.

Von 
Martin Bernhard
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Die Autoren des Buchs und die Redner bei der Buchvorstellung am Montagabend. © Martin Bernhard

Buchen. Es geht um Würde und Gerechtigkeit: Mit der Veröffentlichung von 18 Biografien von behinderten Menschen aus Buchen, die während der Nazi-Zeit ermordet wurden, geben die Autoren den Menschen posthum ihre Würde zurück. Die Stadt stellte am Montagabend das Buch „Im Sammeltransport nach unbekannter Anstalt verlegt“ in feierlichem Rahmen in der Stadthalle vor. Außerdem wurde die Ausstellung „Grafeneck 1940“ eröffnet.

Die Macher des Buchs

Autoren: Herbert Albrecht, Peter Bechtold, Willi Biemer, Peter und Jutta Biller, Bernd Fischer, Isabelle Semma, Gerlinde Trunk, Hans-Werner Scheuing und Tobias-Jan Kohler.

Gestaltung: Matthias Grimm mit seinem Team von „SchreiberGrimm“.

Herausgeber: Stadt Buchen

Seiten: 160

Preis: 24 Euro

Verkaufsstellen: Online-Shop der Stadt Buchen, Verkehrsamt, Bezirksmuseum. mb

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Bürgermeister Roland Burger stellte seiner Ansprache Artikel 1 Grundgesetz voraus. Auch die Redner nach ihm bezogen sich auf diesen zentralen Wert unserer Demokratie.

Würdevoll war auch die Buchvorstellung insgesamt. Pianistin Mara Westerman von der Joseph-Martin-Kraus-Musikschule hatte passende Werke für diesen Abend gewählt, die sie ausdrucksstark zu Gehör brachte. Die im großen Saal der Stadthalle aufgestellten Stühle waren fast alle besetzt.

Bei den Nationalsozialisten dagegen galt die Würde ihrer Opfer nichts. „Das ist beispiellos in der Geschichte der Menschheit“, sagte Burger. „Eine Behinderung war gleichbedeutend mit einem Todesurteil.“ Jahrzehntelang habe ein „Mantel des Schweigens“ über den Verbrechen der Euthanasie gelegen. Spät, aber nicht zu spät, habe man nach den Opfern der Euthanasie in Buchen geforscht, damit auch sie einen „Platz in der Geschichte“ erhielten.

Planmäßiger Mord

Roland Burger dankte besonders Ingrid Landwehr, die bereits im Jahr 2014 begonnen hatte, zu diesem schwierigen Sachverhalt in Buchen zu recherchieren. Seine Hochachtung zollte der Bürgermeister dem hiesigen „Arbeitskreis Euthanasie“ insgesamt: „Es war aufwendig und schwierig, die Quellenarbeit zu leisten.“ Das nun vorliegende Werk schließe eine „Lücke in der Geschichte unserer Stadt“, stellte Burger fest. „Die Autoren haben den Ermordeten ihre Geschichte, ihre Namen und ihre Würde zurückgegeben.“ Seit dem Jahr 2018 findet man die Namen der Buchener Euthanasieopfer in der Gedenkstätte der ehemaligen Buchener Synagoge.

Landrat Dr. Achim Brötel erinnerte an die rund 200 000 Opfer der Euthanasie unter der Nazi-Herrschaft. Die sogenannte Aktion „T4“ verfolgte den planmäßigen Mord an wehrlosen körperlich oder geistig behinderten Menschen, an psychisch und chronisch Kranken sowie an „Asozialen“.

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Einer der wenigen, die sich gegen dieses Unrecht auflehnten, war der Münsteraner Kardinal Clemens August Graf von Galen. Dieser verurteilte in seiner dritten Bergpredigt vom 3. August 1941 die Gräueltaten. Daraufhin wurden die Nazis vorsichtiger. Statt die Morde in den sechs dafür eingerichteten Todesanstalten zu begehen, taten sie dies dezentral in vielen Heilanstalten durch Medikamente und Unterernährung. Nach den Worten des Landrats stammten mindestens 263 dieser Opfer aus der heutigen Johannes-Diakonie.

Im Jahr 2015 befasste sich der Kreishistorikertag mit diesem Thema. Mit Hilfe des Historikers Dr. Dietmar Schulze aus Leipzig erforschte man auch die Schicksale von 50 Bewohner der ehemaligen Kreispflegeanstalt Krautheim, die damals zum Landkreis Buchen gehörte. „Es ist leider in der Tat so: Die Menschen haben damals nicht deutlich und stark genug widersprochen“, sagte Brötel. „Aber auch danach haben in Deutschland viel zu viele noch immer geschwiegen.“ Deshalb seien die Opfer jenes unsäglichen Massenmords zunächst jahrzehntelang von jeglichem Gedenken ausgeschlossen gewesen.

Vor diesem Hintergrund lobte der Landrat die Leistung der Autoren des Buchs umso mehr. „Sie haben in einer wirklich bewundernswerten Detailarbeit und durch akribische Auswertung zahlreicher Quellen die Lebensgeschichten der Opfer recherchiert und aufgearbeitet.“ Damit hätten sie diesen zumindest einen Teil ihrer Menschenwürde zurückgegeben. „Das Buch steht exemplarisch für eine offene Erinnerungskultur in Buchen“, stellte Brötel fest. Und er mahnte, wachsam zu sein, wenn es um den Erhalt unserer demokratischen Werte gehe.

Thomas Stöckle, Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, erläuterte, wie es dazu kam, dass das Renaissance-Schlosses Grafeneck im heutigen Landkreis Reutlingen im Jahr 1940 zum „Schauplatz eines Verbrechens“ wurde. Die Ideen zu diesem fürchterlichen Menschenbild, wonach man Leben als lebensunwert bezeichnen kann, gehen auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück.

50 Jahre später wurde diese Idee mit der Aktion „T4“ grausam verwirklicht. Die Opfer seien selektiert, abtransportiert und meist am Tag ihrer Ankunft auf Grafeneck getötet worden. Ein Jurist sollte später diese Vorgehensweise „arbeitsteilige Täterschaft“ nennen. Nach den Worten von Stöckle waren in Grafeneck 80 bis 100 Täter an den Tötungen beteiligt. Von den insgesamt 10 654 Opfern habe man von rund 9700 die Namen ermitteln können. Diese kamen aus dem gesamten Reichsgebiet, manche aus dem Ausland, insgesamt aus mehr als 1000 Ortschaften.

Nach den Worten von Stöckle hingen die Täter einem völkischen und biologistischen Denken an. „Das Volk wird dabei als Wesen gedacht“, erläuterte der Gedenkstättenleiter. Mancher habe einen Menschen nicht von einer Körperzelle unterschieden. Letztlich habe man gefragt: „Wer gehört nicht dazu?“ Die Folge war, dass man angeblich unwertes und unproduktives Leben vernichtete. In den Prozessen nach 1945 hätten die Täter ihre Taten nicht abgestritten. Nachdem die Urteile gefällt waren, gerieten die Opfer der Euthanasie über Jahrzehnte in Vergessenheit.

Schwierige Erinnerungskultur

Stadtarchivar und Mit-Autor Tobias-Jan Kohler ging in seinem Vortrag exemplarisch auf zwei Biografien von Opfern aus Buchen ein. Auch er wies darauf hin, dass die Anfänge solch menschenverachtenden Gedankenguts um das Jahr 1900 mit dem Forschungszweig Eugenik entstanden waren. Man habe die Bevölkerungszunahme steuern wollen. Ein Ansatz habe darin bestanden, bestimmte Menschen gezielt unfruchtbar zu machen. Erste Sterilisationsgesetze seien in der Schweiz und Dänemark in Kraft getreten.

In den 1920er Jahre entwickelte sich in Deutschland der Gedanke der sogenannten „Rassenhygiene“. Im Deutschen Reich sei die Zwangssterilisation im Jahr 1933 eingeführt worden. Im Jahr 1939 startete die Aktion „T4“. Auch Kohler wies auf eine „schwierige Erinnerungskultur“ nach dem Krieg hin. Bis in die 1980er Jahre gedachte man nicht der Opfer der Euthanasie. Das habe sich erst in den vergangenen Jahrzehnten geändert.

Redaktion

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