Medizinische Versorgung

Geschlossene Praxen: Ärzte protestieren gegen Gesundheitspolitik der Regierung

Im Neckar-Odenwald-Kreis stehen einige Patienten an diesem Mittwoch vor verschlossenen Türen. Um Notfälle wird sich aber immer gekümmert.

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Michael Fürst und Sascha Bickel
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Viele Arztpraxen im Neckar-Odenwald-Kreis bleiben heute geschlossen – aus Protest gegen die Sparmaßnahmen. © dpa

Neckar-Odenwald-Kreis. Viele Patienten in der Region werden heute vor verschlossenen Türen stehen. Manche Ärzte im Neckar-Odenwald-Kreis protestieren von 9 bis 13 Uhrund wollen in dieser Zeit ein Zeichen gegen die geplanten Sparmaßnahmen der Bundesregierung setzen.

Wie viele und wer genau an der Aktion heute mitmacht, wurde am Dienstag nicht verraten. „Es gibt keine genaue Zahl“, sagte Dr. Christoph Kaltenmaier, Allgemeinmediziner aus Aglasterhausen, in seiner Funktion als Sprecher des „Medi-Verbundes“ in Baden-Württemberg. Sorgen müssen sich die Menschen in der Region aber nicht machen: Alle Ärzte, die protestieren, müssen eine Notfallversorgung sicher stellen, informierte Kaltenmaier.

Doch was sind eigentlich die genauen Beweggründe der Ärzte für diese Protestaktion? „Die niedergelassene Ärzteschaft sieht die ambulante Versorgung in Gefahr“, heißt es in einem offiziellen Statement „Medi-Verbunds“ Baden-Württemberg. Der „Medi-Verbund“ ist ein Zusammenschluss von etwa 5000 niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sämtlicher Fachrichtungen und Physiotherapeutinnen und -therapeuten. Die Mediziner begründen ihre Sorge so: Durch eine Abschaffung der sogenannten Neupatientenregelung durch das geplante Finanzstabilisierungsgesetz für die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) der Regierungskoalition in Berlin werden sich neue Patientinnen und Patienten künftig wieder auf noch längere Wartezeiten und Aufnahmestopps einstellen müssen. Mit diesem Gesetz wollen SPD, Grüne und FDP die Finanzen der GKV sichern.

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Weiter befürchten die Mediziner Honorarkürzungen und einen finanziellen Realverlust. Viele Praxen würde alsbald vor die Frage ihrer weiteren wirtschaftlichen Existenzfähigkeit gestellt.

Hohe Zahl an Neupatienten

Zum Hintergrund: Im Mai 2019 wurde die Neupatientenregelung im sogenannten Terminservice- und Versorgungsgesetz eingeführt – als Anreiz für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, mehr Termine für neue Patientinnen und Patienten anzubieten. Diese Leistungen werden extrabudgetär vergütet. Dadurch war laut einer aktuellen Erhebung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung die Zahl der Neupatientenfälle im ersten Quartal 2022 mit 27,1 Millionen so hoch wie noch nie seit Einführung der Neupatientenregelung.

„Wir niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte haben durch die Neupatientenregelung zusätzliches Personal eingestellt, um unsere Versorgung zu verbessern und Patientinnen und Patienten schnellere Termine zu ermöglichen“, berichtet Medi-Vizechef und Initiator der Protestaktion Dr. Norbert Smetak. Und Dr. Norbert Metke, Vorstandsvorsitzender der kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, befürchtet für die Zukunft: „Was akut ist, wird akut behandelt. Alles andere wird künftig deutlich länger warten müssen.“

Dr. Christoph Kaltenmaier verdeutlich die augenblickliche Situation an einer Zahl: „Im Moment bekomme ich 54 Euro pro Patient und Quartel – und das all inclusive.“ Für Patienten die kurzfristig behandelt werden, erhalten die Ärzte nochmals 15 Euro „oben drauf“, sagt Kaltenmaier. Um es plastisch zu machen, vergleicht er die Medizin mit dem Handwerk: „Wenn man heute einen Installateur benötigt, zahlt man für die Meisterstunde zwischen 60 und 80 Euro. Weiteres muss ich dazu wohl nicht mehr sagen.“ Der Arzt glaubt: „Politik und Bevölkerung müssen die Entscheidung treffen, was ihnen die medizinische Versorgung wert ist.“ Deshalb wird die Protestaktion auch nicht einmalig bleiben, sondern sich in Zwei- bis Drei-Wochen-Abständen wiederholen, informierte Dr. Kaltenmaier.

Der Protesttag ist zunächst einmal landesweit auf Baden-Württemberg begrenzt. Und auch im Main-Tauber-Kreis ist man äußerst unzufrieden mit den Plänen der Regierung. Sebastian Gerstenkorn ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Königheim und Vorsitzender der Ärzteschaft Tauberbischofsheim sowie Kreisbeauftragter für den Notfalldienstbezirk Wertheim der Kassenärztlichen Vereinigung und auch stellvertretender Sprecher der Medi-GbR Main-Tauber. Er ergänzt auf FN-Nachfrage: „Das Verhalten der Bundespolitik uns niedergelassenen Ärzten gegenüber ist maximal despektierlich. Wir wurden vom Gesetzgeber dazu genötigt, 25 Stunden Sprechzeiten pro Woche anzubieten statt wie bisher 20 Stunden. Als geringe finanzielle Kompensation wurde zugesichert, dass Neupatienten außerhalb des Budgets vergütet werden. Das bedeutet, dass diese zu 100 Prozent bezahlt werden, nicht zu weniger, wie bisher üblich. Jetzt will man diese Vergütung außerhalb des Budgets wieder streichen, die längeren Arbeitszeiten sollen aber bestehen bleiben. Weiterhin soll unsere Vergütung im nächsten Jahr um lächerliche zwei Prozent steigen. Die derzeitige Inflation liegt aber bei zehn Prozent! Im Gegensatz zu den Krankenhäusern bekommen wir auch keine Unterstützung für die steigenden Energiekosten.“

Das machen Ärzte am Protesttag

Wie die Öffentlichkeit sicher mitbekommen habe, so Gerstenkorn, „geben inzwischen viele niedergelassene Ärzte ihre Praxistätigkeit auf, ohne Nachfolger zu finden. Oder dubiose ‚Firmen’ oder ,Ketten’ kaufen die Vertragsarztsitze auf und schaffen es nicht, diese adäquat mit Ärzten zu besetzen“. Diese Situation erlebe man aktuell auch in Bad Mergentheim. Gerstenkorn beklagt immer schlechtere Rahmenbedingungen „und deshalb protestieren wir für den Erhalt einer funktionierenden ambulanten Versorgung“.

Die am Protesttag teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte werden sich an diesem Mittwoch aber nicht daheim aufs Sofa setzen, sondern sie werden den Tag nutzen, um an virtuellen Fortbildungsprogrammen teilzunehmen. Themen sind unter anderem „Impfungen und Covid-19“ oder „Hygiene in der Arztpraxis in Covid-19-Zeiten“.

Ressortleitung Reporterchef und Leiter der Sportredaktion

Redaktion Stellvertretender Reporter-Chef; hauptsächlich zuständig für die Große Kreisstadt Bad Mergentheim

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