Odenwald-Tauber. „Wir protestieren, weil den Arztpraxen durch den Gesetzgeber immer wieder unzumutbare Arbeitsbedingungen vorgeschrieben werden“, erklärt Dr. Florian Grabs. An diesem Mittwoch bleiben deshalb landesweit viele Praxistüren geschlossen.
Doch was sind eigentlich die genauen Beweggründe der Ärzte für diese Protestaktion? „Die niedergelassene Ärzteschaft sieht die ambulante Versorgung in Gefahr“, heißt es in einem offiziellen Statement des „Medi-Verbunds“ Baden-Württemberg. Dieser ist ein Zusammenschluss von etwa 5000 niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sämtlicher Fachrichtungen und Physiotherapeutinnen und -therapeuten.
Längere Wartezeiten
Die Mediziner begründen ihre Befürchtung so: Durch eine Abschaffung der so genannten Neupatientenregelung durch das geplante Finanzstabilisierungsgesetz für die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) der Regierungskoalition in Berlin werden sich neue Patientinnen und Patienten künftig wieder auf noch längere Wartezeiten und Aufnahmestopps einstellen müssen. Mit diesem Gesetz wollen SPD, Grüne und FDP die Finanzen der GKV sichern.
Weiter befürchten die Mediziner Honorarkürzungen und einen finanziellen Realverlust. Viele Praxen würde alsbald vor die Frage ihrer weiteren wirtschaftlichen Existenzfähigkeit gestellt.
Zum Hintergrund: Im Mai 2019 wurde die Neupatientenregelung im so genannten Terminservice- und Versorgungsgesetz eingeführt – als Anreiz für niedergelassene Ärzte, mehr Termine für neue Patienten anzubieten. Diese Leistungen werden extrabudgetär vergütet. Dadurch war laut einer aktuellen Erhebung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung die Zahl der Neupatientenfälle im ersten Quartal mit 27,1 Millionen so hoch wie noch nie seit Einführung dieser Regel.
„Wir niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte haben durch die Neupatientenregelung zusätzliches Personal eingestellt, um unsere Versorgung zu verbessern und Patienten schnellere Termine zu ermöglichen“, berichtet Medi-Vizechef und Initiator der Protestaktion Dr. Norbert Smetak. Und Dr. Norbert Metke, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, befürchtet für die Zukunft: „Was akut ist, wird akut behandelt. Alles andere wird künftig deutlich länger warten müssen.“
Weiterbildung statt Sprechstunde
Die am Protesttag teilnehmenden Ärzte werden sich an diesem Mittwoch aber nicht daheim aufs Sofa setzen, sondern sie werden den Tag nutzen, um an virtuellen Fortbildungsprogrammen teilzunehmen. Themen sind unter anderem „Impfungen und Covid-19“ oder „Hygiene in der Praxis in Covid-19-Zeiten“.
Dr. Florian Grabs ist Internist und Gastroenterologe in Tauberbischofsheim. Er sagt ganz klar: „Wir protestieren, weil den Arztpraxen durch den Gesetzgeber immer wieder unzumutbare Arbeitsbedingungen vorgeschrieben werden, gleichzeitig die Praxen aber unerlässlich für eine vernünftige Patientenversorgung sind.“ Nun solle der Anreiz, mehr Termine für Neupatienten anzubieten, wieder gestrichen werden.
Sebastian Gerstenkorn ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Königheim und Vorsitzender der Ärzteschaft Tauberbischofsheim sowie Kreisbeauftragter für den Notfalldienstbezirk Wertheim der Kassenärztlichen Vereinigung und auch stellvertretender Sprecher der Medi-GbR Main-Tauber. Er ergänzt auf Nachfrage: „Das Verhalten der Bundespolitik uns niedergelassenen Ärzten gegenüber ist maximal despektierlich.
Wir wurden vom Gesetzgeber dazu genötigt, 25 Stunden Sprechzeiten pro Woche anzubieten statt wie bisher 20 Stunden – also plus 25 Prozent. Als geringe finanzielle Kompensation wurde zugesichert, dass Neupatienten außerhalb des Budgets vergütet werden. Das bedeutet, dass diese zu 100 Prozent bezahlt werden, nicht zu weniger, wie bisher üblich. Jetzt will man diese Vergütung außerhalb des Budgets wieder streichen, die längeren Arbeitszeiten sollen aber bestehen bleiben. Weiterhin soll unsere Vergütung im nächsten Jahr um lächerliche zwei Prozent steigen. Die derzeitige Inflation liegt aber bei zehn Prozent! Im Gegensatz zu den Krankenhäusern bekommen wir auch keine Unterstützung für die steigenden Energiekosten.“
Wie die Öffentlichkeit sicher mitbekommen habe, so Gerstenkorn, „geben inzwischen viele niedergelassene Ärzte ihre Praxistätigkeit auf, ohne Nachfolger zu finden. Oder dubiose ‚Firmen’ oder ,Ketten’ kaufen die Vertragsarztsitze auf und schaffen es nicht, diese adäquat mit Ärzten zu besetzen“. Diese Situation erlebe man aktuell auch in Bad Mergentheim. Gerstenkorn macht sich große Sorgen und sagt: „Die niedergelassenen Ärzte halten bisher eine hochwertige ambulante medizinische Versorgung aufrecht. Das wird sich aber ändern. Durch das System der Drangsalierungen lässt sich kein junger Arzt und keine junge Ärztin mehr nieder.“ Er beklagt immer schlechtere Rahmenbedingungen „und deshalb protestieren wir für den Erhalt einer funktionierenden ambulanten Versorgung“.
Viele Praxen bleiben zu
Auch Gerstenkorns Praxis schließt am 5. Oktober und nimmt an der Protestaktion teil. Ihm ist bekannt, dass etliche hausärztliche Praxen und einige Fachärztliche Praxen die Türen an diesem Tag geschlossen halten. Die Notfallversorgung sei aber gewährleistet, so Sebastian Gerstenkorn.
Dr. Florian Grabs ärgert sich sehr, dass die Krankenkassen behaupten, es wäre nicht die Zeit für Boni für Neupatienten: „Der Begriff ,Boni’ ist eine bösartige Verdrehung der Tatsachen.“ Mit dem gemeinsamen Protest wolle man zunächst die Rücknahme der Neupatientenregelung verhindern. „Wir und unsere Teams wollen von der Politik mehr Wertschätzung, auch von den Krankenkassen“, meint Grabs und fügt noch an: „Das Maß ist voll.“
Dr. Karsten Braun ist niedergelassener Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie in Wertheim. Auch er beklagt als Hauptgrund für den zunehmenden Ärztemangel, „die immer schlechter werdenden Rahmenbedingungen für ärztliche und psychotherapeutische Berufsausübung in freier Praxis“.
Das Praxensterben werde gerade in den ländlichen Regionen weitergehen. Denn: „Weniger Honorar für ärztliche Leistungen bedingt natürlich zwangsläufig weniger Personal in den Arztpraxen, weniger Sprechstundenzeiten und damit längere Terminwartezeiten – also eben doch spürbare Leistungskürzungen!“ Akutfälle würden immer behandelt, aber „alles andere wird künftig deutlich länger warten müssen“, sagt Braun: „Die Patienten sollten gemeinsam mit ihren Ärzten dagegen Sturm laufen.“
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