75 Jahre Kriegsende - Die Ereignisse im Raum Bad Mergentheim (Teil 4 und Schluss) - NSDAP-Kreisleiter Reinhold Seiz beging am 4. Mai auf der Flucht Selbstmord / An den „Endsieg“ glaubte niemand mehr

„Nero-Befehl“ sorgt für verbrannte Erde

Von 
Hartwig Behr
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Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges ging auch die Nazi-Herrschaft zu Ende. Im vierten Teil unserer Serie über das Kriegsende beleuchtet der Autor auch das Schicksal lokaler Nazi-Größen.

Bad Mergentheim. Die Gräber gefallener deutscher Soldaten findet man auf vielen Friedhöfen im Kreis. Unter der Erde liegen vielerorts noch Reste, die von den Kämpfen im April 1945 herrühren: Munitionskästen, Patronenhülsen, Verpackungen eiserner Rationen. Sie könnten ähnlich lange an den Zweiten Weltkrieg erinnern wie Hufeisen an den Dreißigjährigen Krieg, die bis in die Gegenwart auf den Feldern um Herbsthausen gefunden werden.

Addiert man die Zahlen der zerstörten Wohnungen, Ställe und Scheunen, die der gefallenen Soldaten und der getöteten Zivilisten in einigen Orten des Kreises Mergentheim, so kommt man zu dem Ergebnis, dass die 16 Tage der Kämpfe in einigen Gemeinden im Verhältnis ähnlich viel Zerstörung, Elend und Tod brachten wie zuvor die Bombardements von Großstädten.

Zerstörungen befohlen

Nicht alle Zerstörungen gehen auf das Konto der angreifenden Amerikaner. Am 19. März hatte Hitler den Befehl gegeben, in dem es unter anderem heißt: „Alle militärischen, Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören.“

Man nannte diesen Text auch Nero-Befehl nach dem römischen Kaiser Nero, der angeblich Rom anzünden ließ. Er bedeutete für diesen Kreis, dass vor allem Brücken über die Tauber gesprengt werden sollten. Die Zerstörung der Tauberbrücke in Bad Mergentheim unterblieb; sie wurde anscheinend von drei Mergentheimern Männer verhindert, aber anderenorts wie in Igersheim, in Markelsheim, in Creglingen und in Archshofen wurde der Befehl ausgeführt. Dies störte die amerikanischen Panzerfahrer aber nicht im mindesten, sie konnten die Tauber mit ihre Fahrzeugen durchqueren.

Pulverkiste explodiert

Auch in Wachbach sollten Brücken gesprengt werden. Am 2. April jedoch entfernten Soldaten die Sprengladungen wieder. Dabei soll die Zigarettenglut eines Soldaten in eine Pulverkiste gefallen sein. Die Explosion riss vier Menschen in den Tod, 30 Personen erlitten zum Teil schwere Verbrennungen. Unsachgemäßer Umgang mit Munition führte auch noch nach Kriegsende – zum Beispiel in Markelsheim – zu tödlichen Verletzungen von Jugendlichen.

Hoteldiener erschossen

Wer auf die Flugblätter der Amerikaner vertraute und sich ergeben wollte und dies mit einer weißen Fahne dem anrückenden Gegner signalisierte, begab sich in Lebensgefahr – und zwar nicht in erster Linie wegen des möglichen Misstrauens der Feinde. Deutsche Soldaten, meist SS-Soldaten, drohten, solche „Wehrkraftzersetzer“ zu erschießen.

In Edelfingen streckte der NS-Ortsgruppenleiter Ehrlich mit einem Pistolenschuss den Hoteldiener Holzapfel nieder, der den Amerikanern mit einer weißen Fahne entgegen gegangen war. Der Sohn musste den Vater vergraben, heißt es. Der Ortsgruppenleiter kam nach dem Krieg mit einer relativ glimpflichen Strafe davon.

Mit der militärischen Niederlage war für einige Nationalsozialisten der Krieg nicht vorbei, denn in ihren Köpfen hatten sich die NS-Parolen fest eingenistet.

Einige junge Männer glaubten eine Zeitlang, als „Werwölfe“ dem Feind hinter der Front schaden zu müssen. Dies bekannte ein ehemaliger Napola-Schüler aus dem Kreis 60 Jahre später.

Andere fanden keinen Sinn mehr in ihrem Leben, nachdem sie das Dritte Reich hatten untergehen sehen. Sie standen deswegen vor der Frage: Weiterleben oder nicht? Bei einer Selbsttötung ist oft schwer zu sagen, was der entscheidende Grund für die Tat war.

Seelische Verwundungen

Der hiesige Kreisamtsleiter für Rassenpolitik war – wie jeder Amtswalter – interniert worden. Er bekam im November 1945 Urlaub, um zu seiner Familie zu fahren. Er vergiftete sich. Gab es dafür andere Gründe als seine politische Aktivität?

Einige Ehefrauen höherer Nationalsozialisten wollten nicht mehr weiterleben. Was mag hinter ihrer Selbstzerstörung stecken?

Auch einige „kleine Nazis“ setzten ihrem Leben ein Ende, was für andere Menschen völlig unverständlich war.

Viele der körperlichen Verletzungen, die die Kämpfe des Zweiten Weltkriegs bei Soldaten und Zivilisten verursacht hatten, waren nach 1945 in der Öffentlichkeit sichtbar: Gesichtsverletzungen und fehlende Gliedmaßen.

An seelischen Verwundungen und Verkrüppelungen – für Außenstehende meist nicht bemerkbar – litten nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Familienmitglieder und enge Freunde jahrelang, oft bis über den Tod der Versehrten hinaus.

Aus der Stadt geflohen

Viele der führenden Nationalsozialisten waren aus Bad Mergentheim geflohen, als die Amerikaner der Stadt näher rückten. Sie versuchten unterzutauchen. Früher oder später wurden sie gefunden und interniert. Der Kreisleiter Reinhold Seiz sah wohl ein, dass „seine Welt“ zusammengebrochen war.

Akten verbrannt

War das Leben deswegen sinnlos geworden oder fühlte er, dass er zu große Schuld auf sich geladen hatte? Er tötete sich auf der Flucht in die „Alpenfestung“ am 4. Mai 1945 in Bürserberg (Vorarlberg).

Manche Mergentheimer waren der Ansicht, dass er zwar zu verbaler Radikalität neigte, aber „nicht so schlimm“ gewesen sei, dass er sich aus Angst vor Strafe hätte umbringen müssen. Es gab sogar Stimmen, die äußerten, Seiz sei der beste Kreisleiter in Württemberg gewesen. Im März hatte die hiesige Parteileitung zwar ihre Akten in Äußeren Schlosshof verbrennen lassen, aber das gelang nicht vollständig.

Geheimbefehle

Manche Dokumente, zum Teil angekohlt, liegen heute im Ludwigsburger Staatsarchiv und geben Aufschluss über die nationalsozialistische Diktatur im Kreis.

Im Mergentheimer Rathaus ist eine Liste mit den Titeln der Geheimbefehle erhalten geblieben, die der Mergentheimer Bürgermeister im Jahre 1945 erhielt.

Sie enthält – neben zahlreichen Fahndungsmeldungen zu Wehrmachtsangehörigen und Kriegsgefangenen – vor allem Anweisungen zum Verhalten bei „akuter Luftgefahr“ und bei der Beseitigung von Sprengkörpern.

Die beiden letzten Befehle der Liste vom 29. März 1945 befassen sich allerdings mit dem „Verhalten der Ordnungspolizei bei Feindbesetzung“ und „Räumungsmaßnahmen“.

Man darf wohl auch ohne Kenntnis des Inhalts der Schreiben annehmen, dass man höheren Orts kaum eine Chance mehr sah, eine Stadt zu halten oder gar den „Endsieg“ zu erringen, auch wenn Kampfkommandanten dergleichen weiterhin verkündeten.

Hartwig Behr bringt Buch heraus

Der Historiker Hartwig Behr aus Markelsheim befasst sich seit Jahrzehnten intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus.

Zurzeit arbeitet Hartwig Behr an einen Buch über den Nationalsozialismus im Kreis Mergentheim zwischen den Jahren 1918 und 1949. Das Werk soll demnächst vorgestellt werden soll. Hartwig Behr hat den FN ein Kapitel aus dem Buch zum Vorabdruck zur Verfügung gestellt, das wir in vier Teilen veröffentlichen. Heute erscheint der vierte und letzte Teil.

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