Bad Mergentheim. Er fristete lange Zeit fast so etwas wie ein Mauerblümchendasein im Vergleich zum Marktplatz am Alten Rathaus oder zum Platz vor dem Schloss. Aber im August 2020 geriet der Gänsmarkt in die Schlagzeilen. Und das nicht nur in Bad Mergentheim. Mit der buntbeschirmten Umbrella Street verbreitete er Lebensfreude und gute Laune und sorgte dafür, dass der in seinem mittleren Bereich von Autos befreite Platz Einheimischen und Touristen mehr Aufenthaltsqualität bot. Und das soll so bleiben, denn Autos sollen den Platz auch zukünftig nur noch auf der Südseite (vom Ledermarkt zur Holzapfelgasse) und auf der Nordseite (von der Bahnhofstraße zur Härterichstraße) streifen dürfen.
Wo in früheren Zeiten Kleintiere, vor allem Gänse und Enten verkauft wurden und der Gänsmarkt 1598 „Genßmarcktt“ hieß, soll in diesem Jahr der „neue“ Gänsmarkt entstehen: Ein moderner Platz, der eine hohe Aufenthaltsqualität bietet und zum Verweilen einlädt, so die Stadt, wobei Baumhaine und Beete, Sitzbänke, Liegeplätze, Fahrradständer und Spielgeräte geplant sind.
Historisch betrachtet, handelt es sich beim Gänsmarkt mit hoher Wahrscheinlichkeit um den ältesten Siedlungskern der Stadt, der bereits im 8. Jahrhundert entstanden sein könnte. Bei Bauarbeiten wurden Siedlungsreste (Pfosten, Latrinengruben und Mauerfundamente) dokumentiert, die aber eine Besiedlung erst fürs 12. Jahrhundert belegen.
„Uff der oeden burg“
Dass am Gänsmarkt eine Burg stand, ist selbst vielen Einheimischen nicht bekannt. Aber es gab sie tatsächlich. 1346 wurden zwei Gärten „uff der oeden burg“ erwähnt, die vermutlich im 11./12. Jahrhundert mit Wassergraben angelegt worden war. Sie stand vom Münster aus gesehen auf der linken Seite an der Ecke zur Törkelgasse. Abgetragen wurde sie wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Ummauerung der Stadt im 14. Jahrhundert.
An ihrer Stelle wurde 1671 eine Spitalscheuer mit Kelter gebaut, die 1893 abgebrochen wurde und Platz machte für das 1894 errichtete Kaufhaus Schell. Dieses heute noch stattliche Gebäude (Gänsmarkt Nr. 7) prägt zusammen mit dem Gänsmarkt Nr. 1, in dem sich ein Schuhgeschäft befindet, architektonisch den westlichen Rand des Platzes mit beeindruckender Fassadengestaltung des späten 19. Jahrhunderts.
Jüdisches Gemeindeleben
Während die westliche Seite noch historische Architektur aufweist, sieht es auf der gegenüber liegenden östlichen Seite ganz anders aus. Als Reichspräsident Paul von Hindenburg 1926 Bad Mergentheim besuchte, fuhr sein Wagen über den Gänsmarkt.
Die Bewohner bereiteten ihm einen Empfang am Kiliansbrunnen. Im Hintergrund des damals aufgenommenen Bildes kann man die Bäckerei Hirschhorn und die Eisenwarenhandlung Heidelberger erkennen. Beides waren jüdische Geschäfte. Die Gebäude fielen 1992 Neubauten zum Opfer.
Ebenfalls abgerissen
Die weitere Häuserfront wurde 1999 ebenfalls abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Unter den Altbauten befand sich auch der Gänsmarkt Nr. 8, wo von 1874 bis 1929 das jüdische Gasthaus Fechenbach mit koscherer Küche und Metzgerei untergebracht war. Das Gasthaus war häufig das Zentrum des jüdischen Gemeindelebens in Mergentheim.
Am 27. Januar 1939 beschloss der Gemeinderat, den Gänsmarkt zum 30. Januar 1939, dem sechsten Jahrestag der Machtübernahme durch die NSDAP, in Platz der SA umzubenennen. Die Sturmabteilung war die paramilitärische Kampforganisation der NSDAP.
Im Spannungsfeld
Auch auf der nördlichen, schmalen Häuserseite setzte sich im Jahr 2011 mit dem Abriss des früheren Gasthauses Rose (ab 1621 Schenkstatt) und weiterer Gebäude der historische Bestandsverlust fort. Der Gänsmarkt ist ein Beispiel dafür, wie sehr das Spannungsfeld zwischen Schutz der Altstadt und Neugestaltung die Gemüter erregt. Abriss alter Bausubstanz, Neubauten, geplante Brunnenverlegung, Platzneugestaltung und vor allem das Verbannen von Autos waren Themen, die in die Schlagzeilen gerieten.
Im Mai dieses Jahres sorgte der Gänsmarkt erneut für Schlagzeilen, denn die Stadt wurde mit dem ersten Preis beim „Polis Award“ in der Kategorie „Lebenswerter Freiraum“ ausgezeichnet.
Die Jury zeigte sich begeistert darüber, wie der Mensch und das Klima bei der Neugestaltung des Gänsmarkts in den Mittelpunkt gestellt werden.
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