Prozess vor dem Amtsgericht

Bad Mergentheim: Bibel-Prophet verharmlost Völkermord

Die millionenfachen Verbrechen der Nazizeit: Von selbst ernanntem Bibel-Wächter öffentlich gebilligt, geleugnet und verharmlost. Die Quittung vor dem Amtsgericht: Eine zehnmonatige Bewährungsstrafe und 60 Sozialstunden.

Von 
Michael Weber-Schwarz
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Besucher stehen am frühen Morgen am Tor zum früheren Konzentrationslager Auschwitz I mit dem Schriftzug „Arbeit macht frei“. Bei Protestzügen in Bad Mergentheim hatte ein Demonstrant den Schriftzug für sein Plakat in „Impfen macht frei“ verändert und so den Völkermord verharmlost und relativiert. © dpa

Bad Mergentheim. Den deutschen Staat und seine gewählten Vertreter zu schmähen – das gehörte für einen Teil der Bevölkerung in der Coronazeit zum schlechten Ton. Gegen das Impfen durfte und darf man sich trotzdem aussprechen. Und zum Impfen gezwungen wurde und wird man auch nicht.

Teile der so genannten Querdenkerszene sehen das anders – und begreifen sich als Opfer einer zusammenphantasierten staatlichen Willkür. Trauriger Höhepunkt solcher merkwürdiger Einstellungen war die bekannte „Jana aus Kassel“, die sich 2020 bei einer Querdenken-Demonstration „wie Sophie Scholl“ fühlte. Als Widerstandskämpferin gegen ein brutales Unrechtsregime also – und wie die Geschwister Scholl mit dem Tode bedroht.

Ein orthodoxer Jude bläst ein „Schofar“. Vor der Gerichtsverhandlung im Schlosshof blies der Angeklagte ebenfalls ein Horn. Er versteht sich als biblischer „Wächter“. © picture alliance/dpa

In Bad Mergentheim hatte Otmar S. im Zuge der öffentlichen „Spaziergänge“ gegen Coronamaßnahmen (s)ein göttliches Erweckungserlebnis: Er hält sich für einen alttestamentarischen „Wächter“. Dies ist für den Normalmenschen vielleicht seltsam, aber keine Straftat. Dass S. bei unangemeldeten Demonstrationen in der Innenstadt aber ein Plakat mitführte schon. „Impfen macht frei“ stand darauf – in den bekannten Lettern der Eingänge von Konzentrationslagern gestaltet.

Widerstand bei Polizeikontrolle

Es war das Frühjahr 2022, erläuterte der Staatsanwalt vor dem Amtsgericht Bad Mergentheim, als S. (Jahrgang 1963) erstmals erkenntlich auftrat. Rund 400 Teilnehmer aus der Region hatte die Demonstration „gegen Impfzwang“ in der Innenstadt. Durch sein Plakat habe S. einen Vergleich zwischen Pandemie-Maßnahmen und Völkermord gezogen und so den millionenfachen Massenmord an jüdischen Mitbürgern bagatellisiert und verharmlost.

Mehr noch: S. habe die Rechtssicherheit in Deutschland relativiert und so öffentliche Ruhe und Frieden beeinträchtigt – Paragraf 130 des Strafgesetzbuchs nennt das „Volksverhetzung“. Insbesondere die „Auschwitzlüge“/Holocaustleugnung sind mit bis zu drei Jahren Gefängnis bedroht.

S. hatte sein selbstgestaltetes Plakat bei mehreren weiteren „Spaziergängen“ gezeigt – und bei einer Festnahme zur Klärung seiner Personalien Widerstand gegen Polizeibeamte geleistet. Auch ein Messer führte er verbotenerweise mit.

„Gott mehr gehorchen“

Soweit der Vorhalt – den S. mit den Worten quittierte: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Schon vor der Verhandlung hatte der Angeklagte im Schlosshof sein „Schofar-Horn“ geblasen, genuin eine Naturposaune aus einem (Widder-) Horn. In den Bibel-Büchern Jeremia und Joel etwa wird das Instrument im Zusammenhang mit einer „Wächter“- und Mahner-Funktion erwähnt. Der Angeklagte (mit langer Barttracht) hält sich also mutmaßlich für eine Art Prophet mit göttlichem Missionsauftrag.

Dass es seine spezielle Interpretation der Bibel ist, die ihn leitet, das machte S. mehrfach mit überlangen Zitaten deutlich. Auch Amtsgerichtsdirektorin Susanne Friedl hält er ganz offensichtlich mindestens für eine Vertreterin eines schnell zu überwindenden Erden-Reichs: „Lasst Euch warnen, Ihr Richter der Erde!“, deklamierte S. stehend in seraphischem Predigerton samt ausladenden Hand-Gesten. Die damalige Maskenpflicht, sie sei ein „Stehlen der Menschenwürde und der Ehre“, ließ S. zudem wissen.

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Zum polizeilichen Fall wurde die Plakataktion unter anderem, als der Zeuge R. in einem Bad Mergentheimer Café saß. R. schilderte seine Erinnerungen an die Plakatmotive, darunter auch ein Viehwaggon, wie er in der Nazizeit für Vernichtungs-Deportationen genutzt worden ist. Für den Zeugen sind diese Bilder im Coronaprotest-Kontext „unerträglich“ gewesen – es hatten sich damals zudem auch Nachfahren von jüdischen Deportierten in der Stadt aufgehalten. R. hatte auch Kenntnis von weiteren Auftritten des Angeklagten, unter anderem vor einer Bad Mergentheimer Kirche.

Auch der Polizei ist das Plakat im Zusammenhang mit den verabredeten „Spaziergängen“ aufgefallen. Wegen des Anfangsverdachts auf Volksverhetzung habe man S. kontrolliert. Der habe „in einer fremden Sprache“ geredet, seine Personalien nicht preisgegeben und bei der Festnahme Widerstand geleistet.

Bei der körperlichen Durchsuchung im Polizeirevier fanden die Beamten ein Attest zur „Maskenbefreiung“ – laut Polizei von einem Arzt, der bekannt für Gefälligkeitsatteste sei. Die Polizei wisse nach Ermittlungen, dass S. auch einer der Veranstalter von „Spaziergängen“/Demonstrationen sei. Die Teilnehmer selbst hatten stets von „zufälligen Treffs“ gesprochen – tatsächlich hatte man sich zu den Demos vorher per Mobiltelefon verabredet.

„Er sieht sich als Wächter“, so ein Bad Mergentheimer Pastor, der als Zeuge auftrat. S. sei „kein Antisemit“, sondern „liebt das Volk Israel“. Der Angeklagte habe auch „keine Verunglimpfung des Holocaust im Sinn“ gehabt. Gleichwohl wisse er aus Gesprächen, dass S. die Bibel sehr eigenwillig auslege. Eine Privattheologie sozusagen. Sich selbst bezeichnete S. als „Christ“.

„Man kann keine Worte dafür finden“, wenn Nachfahren ermordeter Juden das Plakat mit seinen ausgedachten Bezügen hätten sehen müssen, so der Staatsanwalt. Der Tatbestand der Volksverhetzung sei für ihn klar erwiesen. Den äußeren Umstand seiner Aktionen habe der Angeklagte auch eingeräumt.

Langer Bibel-Vortrag ohne Anwalt

S. verteidigte sich ohne Rechtsbeistand selbst und nutzte sein Letztes Wort für einen fast halbstündigen biblischen Vortrag – samt privaten Folgerungen.

Die Urteilsverkündung: Man könne über das Thema Impfen geteilter Meinung sein, hielt Richterin Susanne Friedl fest. „Aber solche Vergleiche gehen nicht.“ Der Angeklagte stilisiere sich zum Widerstandskämpfer, relativiere der Holocaust und würdige das Andenken getöteter Juden herab. „Und sie waren sich der Wirkung bewusst“, so Friedl. Eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten zur Bewährung (Zeitraum zwei Jahre) plus Sozialstunden – ob hier wirklich eine Bewährung angezeigt sei, halte sie mindestens für fraglich. Der Angeklagte hatte in der Verhandlung jedenfalls keine grundsätzlichen Anzeichen von Einsicht und Reue erkennen lassen.

Redaktion Im Einsatz für die Lokalausgabe Bad Mergentheim

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