Bad Mergentheim/Niederstetten. Wer regelmäßig Prozesse an deutschen Gerichten verfolgt, darf nicht zart besaitet sein. Und wer darüber noch berichten will, sollte zudem auch nicht zur Sprachlosigkeit neigen. Doch immer mal wieder gibt es Prozesse, die lassen einen regelrecht sprachlos zurück.
Seltener sind es dabei die Prozesse an Landgerichten mit schwereren Vorwürfen. Wer hier, wie eingangs erwähnt, nicht allzu zart besaitet ist, kommt zurecht. Es ist planbarer, die Abläufe klarer, man hat Routinen, die Orientierung bieten. Am Amtsgericht ist das nicht immer der Fall. Gerade bei den vermeintlich kleinen Fällen. Diese sehen in den Gerichtsdokumenten unspektakulär aus, sind aber teils wahre Wundertüten.
Eine solche Wundertüte ist der Fall einer Trunkenheitsfahrt, der am Amtsgericht Bad Mergentheim verhandelt wird. Angeklagt ist ein 51-Jähriger aus Niederstetten. Er soll im März zwischen Laudenbach und Niederstetten mit knapp zwei Promille Alkohol im Blut gefahren sein. Und das ziemlich auffällig. So auffällig, dass es Zeugen gibt, die ihn dabei beobachten und die Polizei alarmieren.
Die Zeugen erkennen den Mann eindeutig und geben das so an die Polizei weiter. Diese macht später einen Alkoholtest, der ein Ergebnis von 1,79 Promille noch deutlich nach der mutmaßlichen Trunkenheitsfahrt angibt.
Die Sache könnte jetzt Routine sein. Der Mann erhält einen Strafbefehl mit 90 Tagessätzen zu je 35 Euro, macht also eine Geldstrafe von gut 3.000 Euro. Diese fällt auch deshalb höher aus, weil er laut Anklage nicht das erste Mal negativ im Verkehr auffällt und bereits keine Fahrerlaubnis mehr besitzen soll. Doch dazu später mehr.
Nun ist es mit den Strafbefehlen eigentlich recht einfach. Wer sie unterschreibt, akzeptiert die angegebene Strafe und entgeht einem Prozess. Wird Einspruch eingelegt, kommt es zu einer Hauptverhandlung. So ein Einspruch kann nachvollziehbar sein, wenn beispielsweise die Höhe des Tagessatzes (der sich am Einkommen orientiert) durch falsche Annahmen zu hoch angesetzt ist.
Trotz „relativ eindeutiger“ Beweise: Mann streitet alles ab
Man kann aber natürlich auch die Schuld generell bestreiten, wie es der Niederstettener im Prozess tut. „Ich weiß von diesem Tag nichts mehr, aber mein Sohn sagt, er sei gefahren“, erklärt er mehrfach. Das Problem: Gleich mehrere Zeugen haben ihn an jenem Abend gesehen und zielsicher erkannt. Eine Frau kennt ihn sogar aus einem Bewerbungsgespräch, das sie mit ihm geführt habe.
Viel eindeutiger geht es von außen betrachtet eigentlich nicht mehr. Doch der Angeklagte streitet immer noch alles ab. Sogar, dass er jemals ein Bewerbungsgespräch mit einer der Zeuginnen geführt haben soll. Auch, dass sich am Auto Erd- und Grasreste sowie zur rumpeligen Fahrt passende Schadensmuster fanden, überzeugt den Mann nicht. Immer wieder beteuert er, keine Erinnerung zu haben.
Nun kann man auch in einer laufenden Hauptverhandlung den Einspruch gegen einen Strafbefehl zurücknehmen, dieser wird dann rechtskräftig. Aber das geht nur mit Zustimmung der Anklage. Die Erfahrung zeigt: Am Anfang einer Verhandlung stimmt die Staatsanwaltschaft so einem Vorgehen noch zu, je länger verhandelt wird, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit. Oder wie es Richterin Susanne Friedl ausdrückt: „Dann ist es zu spät, den rollenden Zug noch aufzuhalten.“ Angesichts der „relativ eindeutigen“ Beweislage macht sie deutlich, dass sie eine Rücknahme für sinnvoll hält.
Sogar der Verteidiger ist nicht überzeugt
Sogar Verteidiger Frank Gangl, ein erfahrener Fachanwalt für Verkehrsrecht, sieht das so. Aber: „Wir haben stundenlang telefoniert, er will das Verfahren unbedingt machen.“ Dabei sei der Strafbefehl „nicht garstig“, will heißen: hätte schlimmer kommen können. Denn der Mann ist einschlägig wegen Trunkenheit im Verkehr vorbestraft, hatte deshalb seine Fahrerlaubnis verloren. Dass es für den Zweitverstoß noch eine Geldstrafe statt einer Freiheitsstrafe zur Bewährung gibt, ist eher die Ausnahme als die Regel.
Doch der Mann ist davon nicht zu überzeugen. „Wenn Sie selbst keine Erinnerung mehr haben, könnte es dann nicht sein, dass die Zeugen recht haben?“, versucht es der Staatsanwalt vorsichtig – und ohne Erfolg. Irgendwann reicht es Richterin Friedl. „Die Zeugen beschreiben einen Mann zwischen 45 und 55, ihr Sohn ist 19. Wenn er nicht extrem gealtert ist, ist das nicht zu verwechseln“, führt sie aus. „Nur weil sie es nicht mehr wissen, heißt es nicht, dass es nicht passiert ist. Es haben Sie Leute gesehen und sind Ihnen sogar hinterhergefahren“, spricht sie Klartext.
Bei einer Fortsetzung drohen große Risiken
Der Mann müsste mit mehreren negativen Folgen rechnen, wenn er auf einer Fortsetzung besteht, so viel wird deutlich. Denn dem Sohn könnten bei einer falschen Aussage selbst rechtliche Konsequenzen drohen. Und aus einer einfachen Trunkenheitsfahrt könnte je nach Zeugenschilderungen durchaus auch eine Gefährdung des Straßenverkehrs werden, die eine deutlich höhere Strafe ermöglichen würde.
Diese Fülle an Argumenten überzeugt den Mann, er nimmt den Einspruch zurück. Nicht ohne zu schimpfen: „Das ist eine Anzeige wegen nichts und wieder nichts, es ist ja nix passiert.“
Und dann, als quasi alles vorbei ist, wird es nochmal hektisch. Eine Zeugin meinte, man solle dem Mann doch mal raten, endlich auf das Fahren zu verzichten, sie habe ihn erst neulich wieder gesehen. Da werden Richterin Friedl und der Staatsanwalt hellhörig: Der Mann hat doch aktuell keine Fahrerlaubnis, oder? Droht da etwa aus dem Gerichtssaal heraus die nächste Anzeige? Friedl will die Zeugin für eine Aussage direkt aus dem Gericht zur benachbarten Polizeiwache schicken, als sich dann aufklärt: Der Mann hat seine Fahrerlaubnis nach Ablauf der vorangegangenen Sperrfrist wieder, die erneute Fahrt war also legal.
Damit ist es jetzt schon wieder vorbei: In dem rechtskräftigen Strafbefehl steht eine erneute Sperrfrist von 18 Monaten nach dem Entzug der Fahrerlaubnis. Eineinhalb Jahre muss der Mann also auf sein Auto verzichten – mindestens.
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