Zeitreise

Überfall auf den Postzug nach London - Ihre Majestät bestohlen

Von 
Konstantin Groß
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Das Geld ist weg. Unterhalb der Bridego-Brücke kann die Polizei am 8. August 1963 nur noch die Lokomotive und den ausgeraubten Waggon sicherstellen. © Archiv

London. Es ist eine Tat der Superlative: mit nach heutigem Wert 65 Millionen Euro größter Geldraub der Geschichte, dessen Beute zum Großteil unentdeckt ist. Dafür von den Akteuren selbst in Büchern festgehalten und mehrmals verfilmt, von der Presse zu Jahrestagen immer wieder dargestellt. So auch hier zum 60. am 8. August.

Beginnen wir mit dem Kopf des Coups: Bruce Reynolds, damals 32 und seit dem 17. Lebensjahr mit dem Gesetz in Konflikt. Ein Drittel seines Lebens verbringt er hinter Gittern. Anfang der 1960er Jahre führt er in London zur Tarnung ein Antiquitätengeschäft, ist dadurch angesehenes Mitglied der Gesellschaft und Förderer der Konservativen Partei. Er pflegt distinguierte Attitüde, bis hin zum Militärischen; im Krieg ist er Soldat, wird daher von seinen Kumpels als „Major“ angesprochen.

Einer von ihnen ist Douglas Gordon Goody, der einen Friseursalon betreibt. 1962 erhält er von einem Kleinkriminellen einen Tipp: In dem Postzug, der jede Nacht von Glasgow nach London fährt, befindet sich ein Waggon mit großen Mengen Geld. Abgegriffene Scheine, die zur Entsorgung transportiert werden. Das Gute daran: Da die Scheine zur Vernichtung anstehen, werden sie nicht registriert. Das Begleitpersonal besteht aus 70 Beamten der Post Ihrer Majestät – unbewaffnet.

Ein ausgefeilter Plan

Reynolds arbeitet einen Plan aus. Einen, der sich an seine Erfahrung im Zweiten Weltkrieg anlehnt. Damals, 1944, kapert er in Frankreich Züge der deutschen Wehrmacht, indem er sie vor Tunneln zum Stehen bringt. So soll es auch diesmal laufen: Stopp vor einem Tunnel, Abkoppeln von Lok und Geldwaggon, Entladung an anderer, sicherer Stelle. Das klappt natürlich nur, wenn der Geldwaggon direkt hinter der Lok hängt.

Als Ort des Überfalls wählt Reynolds eine einsame Stelle nahe Cheddington. Die Gegend ist kaum besiedelt, dafür gut angebunden an die Autobahnen A 40, 41, 5, 418. Als Unterschlupf mieten die Räuber eine 43 Kilometer entfernte Farm.

So ungefähr läuft der Überfall: Szene aus dem Film „Die Gentlemen bitten zur Kasse“. © Archiv

Ein Jahr dauert die Detailplanung. Dabei denken sie an alles. So soll das Signal nicht einfach auf Rot gestellt werden, da dies einen Impuls ans Stellwerk nach sich ziehen würde. Stattdessen wird das Grünlicht mit einer Mütze verhangen und das Rotlicht durch eine mit einer Batterie betriebene Lampe erzeugt.

Um die nötigen Geldmittel zur Vorbereitung zu besorgen, überfällt die Gruppe 1962 eine Bank nahe dem Flughafen London. Zugleich Generalprobe des neuen Teams, vor allem für die wichtigste Vorgabe des Chefs: „Bei uns wird nicht geschossen!“ Zugelassen sind einzig Eisenstangen, die aber auch ummantelt werden, um keinen zu großen Schaden anzurichten. Reynolds Philosophie: Sollten sie doch geschnappt werden, soll die öffentliche Meinung auf ihrer Seite stehen. Und das geht nicht, wenn es zu Opfern kommt.

Postler merken nicht, was los ist

Am 7. August soll es so weit sein. Doch kurz zuvor erhalten sie von ihrem Tipp-Geber einen Hinweis: Ausgerechnet an diesem Tag befindet sich der Geldwaggon in der Mitte des Zuges. Das Verschieben des Termins schafft Probleme: Manche haben sich nur für diese Nacht ein Alibi verschafft. Doch es muss eben sein. Die Zeit vertreiben sich die Täter mit Brettspielen. Natürlich „Monopoly“.

Einen Tag später, am 8. August, 3.05 Uhr, ist es soweit. Mit dem fingierten Stoppsignal hält die Bande den Zug an und besetzt die Lok. Der Lokführer wehrt sich und wird mit einer Eisenstange niedergeschlagen; bis zu seinem Tod 1970 leidet er physisch und psychisch an den Folgen.

Wie geplant, wird der Waggon mit den Geldsäcken vom Rest des Zuges abgekoppelt. Doch der Komplize, der die Lok mit dem Geldwaggon fahren soll, ist dazu nicht in der Lage. So wird der verletzte Lokführer dazu gezwungen. 1,2 Kilometer weiter, an der Bridego-Brücke, kommt der Zug zum Stehen. Hier laden die Täter die 120 Geldsäcke auf einen Laster und zwei Jeeps und fahren zum Versteck. Nach 18 Minuten ist alles vorbei.

Ausschnitt aus dem Fahndungsplakat. Unten 2. v. l. der Anführer: Bruce Reynolds. © Archiv

Erst danach merken die Postler im abgehängten Zug, warum sie stehen, und können von einer Farm aus die Polizei alarmieren. Da ist der Überfall eine Stunde her. Eine weitere Stunde braucht es, bis die Straßen abgeriegelt sind. Danach durchsucht die Polizei alle Farmen der Umgebung – doch es sind Dutzende.

Den Durchbruch bringt ihr der Hinweis eines Nachbarn: In der Leatherslade Farm seien alle Fenster verhangen. Als die Polizei dort anrückt, ist sie von den Tätern kurz zuvor verlassen worden. Ein Komplize, der den Auftrag hatte, sie abzubrennen, hat ihn nicht ausgeführt. So entdeckt die Polizei Fingerabdrücke und andere Hinweise. Innerhalb eines Monats kommen 13 Täter in Haft. Dem Anführer Bruce Reynolds gelingt es jedoch unterzutauchen.

Zwei Tätern gelingt Flucht aus dem Gefängnis

Vor dem Provinzgericht in Buckinghamshire kommt es 1964 zum Prozess. Die Angeklagten gehen frohen Mutes ins Gericht, winken Schaulustigen und Pressefotografen lachend zu. Sie sagen kein Wort, doch die 613 Asservate, die wie Tombolagewinne aufgereiht sind, sprechen für sich. Richter Edmund Davies, der 1959 ein Todesurteil gefällt hat, ist entschlossen, ein Exempel zu statuieren und die Tat „aller Romantik zu entledigen.“ Als besonders verwerflich erachtet er, dass ein Postzug Ihrer Majestät ausgeraubt wurde und damit quasi die Königin selbst. Er verhängt drakonische Strafen, alleine sieben Mal 30 Jahre Gefängnis.

Von den Inhaftierten stirbt einer 1968 in Haft, die anderen werden in den 1970er Jahren begnadigt. Ronald Biggs und Charlie Wilson gelingt die Flucht aus dem Gefängnis.

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  • Artefakte: Einer der Waggons (nicht der, in dem das Geld war) ist im Birmingham Railway Museum ausgestellt. Der „Geldwaggon“ wurde 1970 verschrottet, um den Ort des Verbrechens nicht zum Souvenir werden zu lassen, 1984 folgte die Lokomotive.
  • Bücher: Zwei Teilnehmer des Raubes schrieben Memoiren: Bruce Reynolds (Autobiography of a Thief) und Ronald Biggs (Odd Man Out).
  • Film: „Die Gentlemen bitten zur Kasse“, ARD 1965. Authentische Rekonstruktion, nur die Namen geändert, Reynolds etwa heißt Donegan. Da es dafür in England keine Genehmigung gab, wurde in Deutschland gedreht, der Überfall auf den Zug etwa an der Bahnstrecke zur Klein-stadt Moringen bei Göttingen. Darsteller waren viele bekannte Schauspieler wie Horst Tappert als Kopf der Gruppe oder Siegfried Lowitz als er-mittelnder Scotland-Yard-Inspektor.
  • Verfügbarkeit: Im Handel als DVD. Die technische Qualität ist nicht ganz optimal, da die DVD nur auf einer Kopie basiert. Die Originalfilmrollen wurden 1980 versehentlich entsorgt.
  • Fernsehen: Hier wird der Film nur noch selten gezeigt. Nach dem Tode von Hauptdarsteller Horst Tappert 2008 wurde bekannt, dass dieser im Zweiten Weltkrieg Angehöriger der berüchtigten SS-Division „Totenkopf“ in Russland war. Das ZDF entschied daher, keine Folgen der Serie „Derrick“ mehr zu wiederholen, in der Tappert ja die Titelrolle spielte.
  • Neuste Verfilmung: Zum 50. Jahrestag 2013 erschien der englische Fernseh-Zweiteiler „Der große Eisenbahnraub“. Teil 1 schildert den Überfall aus Sicht der Täter, Teil 2 aus Sicht der Polizei – sehr sehenswert! -tin

Wilson flieht nach Mexiko und lebt danach unerkannt in einer guten Wohngegend in Kanada. Bis seine Ehefrau den Fehler begeht, ihre Eltern in England anzurufen, so dass Scotland Yard auf die Spur kommt. 1968 wird er inhaftiert und 1978 entlassen. Er zieht nach Marbella, wo er 1990 auf der Straße erschossen wird.

Der legendäre Ronald Biggs

Die berühmteste Karriere macht Ronald Biggs. Nach 15 Monaten Haft gelingt ihm die Flucht aus dem Gefängnis. Nach einer Gesichtsoperation reist er mit Ehefrau und Söhnen nach Australien und von dort, wo es ihm zu unsicher ist, alleine nach Rio. Als er nach elf Jahren 1974 aufgespürt wird, ist er vor Auslieferung sicher: Denn seine einheimische Lebensgefährtin, die Stripperin Raimunda, erwartet von ihm ein Kind.

Um sich durchzuschlagen, nutzt der mittellose Biggs seine Berühmtheit. Für 60 Dollar lässt er sich zum Frühstück mit Gespräch über den Geldraub des Jahrhunderts buchen. 1978 nimmt er mit der Punkband „Sex Pistols“ den Song „No one is innocent“ auf, 1991 mit den „Toten Hosen“ die Single „Carnival in Rio“.

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Nach mehreren Schlaganfällen und Herzinfarkten erklärt sich der mittlerweile 71-Jährige im Mai 2001 bereit, nach England zurückzukehren. Das Massenblatt „Sun“ finanziert ihm den Flug, nach dessen Landung er zwar sofort verhaftet, aber auf Grund seiner Krankheit 2009 freigelassen wird. Er stirbt 2013.

Bruce Reynolds, bis dahin in Mexiko, wird 1968 bei einem Aufenthalt in England festgenommen, 1969 zu 25 Jahren Haft verurteilt, aber 1978 entlassen. Fortan wird er Gast in Talk Shows, aber auch zu Vorträgen in Bildungseinrichtungen wie der Eliteschule in Eton eingeladen. 1998 überreicht er bei einer Gala den TV-Preis „Telestar“ an Horst Tappert, der ihn 33 Jahre zuvor im Film darstellt. 1995 schreibt er seine Autobiografie, in der er aber nichts rauslässt, was nicht schon bekannt ist – ebenso wie 2007, als er sich an einem Lügendetektor angeschlossen zu dem Postraub befragen und dabei fürs Fernsehen filmen lässt. Reynolds stirbt nahezu verarmt im Jahre 2013.

Von den 2,6 Millionen Pfund werden nur 330 000 Pfund gefunden. Manches geben die flüchtigen Täter für ihren exklusiven Lebensstil aus, manches zur Versorgung der Familien der Inhaftierten. Anderes ist wohl vergraben – längst verschimmelt oder noch der Entdeckung harrend.

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