Frankfurt. Ein Wohnblock im Herzen Frankfurts. Gleich gegenüber der Eschenheimer Turm, ein Stadttor von 1428, um die Ecke die berühmte Zeil. Das Haus selbst: typisch für die 1950er Jahre, der Glanz außen marode, im Inneren dank grauen Marmors noch zu erahnen. „Mein Vater war Architekt und hat das Haus mitgebaut“, sagt Stadtführer Christian Setzepfandt, der uns die Location zeigt – links oben, hinter vier Fensterscheiben, sinnigerweise unter der Reklame eines Detektivbüros. Die Wohnung, in der sich der berühmteste Kriminalfall der Nachkriegszeit ereignet: die Ermordung der Prostituierten Rosemarie Nitribitt vor genau 65 Jahren.
Als Geliebte führender Repräsentanten von Wirtschaft und Politik im Nachkriegsdeutschland ist sie Spiegelbild der moralischen Doppelbödigkeit der 1950er Jahre. Daher Stoff für Bücher, Dokus und Filme. Aber auch eine Geschichte von Polizeipannen: der Mord an einer 24-Jährigen, der nie aufgeklärt wird. Tragisches Ende eines tragischen Lebens.
Auf den Spuren der legendären Rosemarie Nitribitt
- Tathaus Stiftstraße 36: Es wurde 1956 auf einem Trümmergrundstück errichtet und gehörte dem Architekten Wilhelm Behrentzen. Dieser wollte nach dem Mord aus der Wohnung ein Museum machen, doch die Zeit war dafür noch nicht reif. 1960 zog ein Ehepaar in die mit Nitribitts Möbeln ausgestattete Wohnung ein. Als es 1986 auszog, kamen die Möbel auf den Sperrmüll. Heute gehört das Haus einer Wiesbadener Familie.
- Führungen: Christian Setzepfandt gilt als profiliertester Stadtführer Frankfurts, seit 45 Jahren im Beruf, seit 20 Jahren mit Thema „Nitribitt“. Kontakt: setzepfandt@t-online.de, Infos: www.frankfurter-stadtevents. de/Datum/14-November-2022/Rosemarie- Nitribitt_20010014/
- Stationen: Setzepfandt zeigt versiert alle Nitribitt-Locations, zum Beispiel das Schreibwarengeschäft Tinkel, in dem sie ihr legendäres Notizbuch kaufte; der Friseursalon Gay, wo sie neben den Frauen ihrer Freier saß; das Modeatelier Toni Schießer in der Friedensstraße 2, bei der sie Kundin war – wie Catherina Valente oder Franz-Josef Strauß‘ Frau Marianne.
- Bücher: am instruktivsten Christian Steiger „Rosemarie Nitribitt. Autopsie eines deutschen Skandals“.
- Dokus: „Tod einer Edelhure“ (arte) mit Zeitumständen als Schwerpunkt; „Skandal. Der Fall Nitribitt“ (ZDF) auf den Kriminalfall konzentriert.
- Spielfilm: „Das Mädchen Rosemarie“ (1958) mit Nadja Tiller in der Titelrolle. Sittengemälde der 1950er Jahre, aber nicht ohne Fehler. So ist der Mercedes im Film beige (statt schwarz), die dortige Spionage-Theorie inzwischen widerlegt. 1996 folgte ein Remake mit Nina Hoss. -tin
Das beginnt 1933 in Düsseldorf. Ihre Mutter ist erst 18 und hat dennoch bereits zwei Mädchen. Mit ihnen ist sie überfordert. Alle drei gibt sie weg. Rosemarie kommt zu einer Pflegefamilie in die Eifel, entwickelt sich dort zunächst ganz gut. Als sie elf ist, wird sie von einem jungen Mann vergewaltigt; der wird nie belangt, kommt an die Front, wo jeder gebraucht wird. In Zeiten des Massensterbens interessiert sich keiner für die Vergewaltigung. „Da ist etwas in ihr zerbrochen“, vermutet ihr Biograf Christian Steiger. Die Akten des Jugendamtes, die erhalten sind, lassen erkennen, dass Rosemarie nun ihren tragischen Weg einschlägt.
Nach dem Kriege lässt sie sich, gerade 13, erstmals für Sex bezahlen, indem sie sich französischen Soldaten anbietet. Kinderheime werden ihrer nicht Herr. Um sie los zu werden, erklärt man sie mit 18 für volljährig (statt wie damals noch mit 21).
Rosemarie geht nach Frankfurt. Nur knapp verliert die Boom-Town 1949 die Abstimmung über die Bundeshauptstadt gegen Bonn. Doch die Bundesbank bleibt, viele andere Banken, große Messen. Am Main herrschen Geld, aber auch liberaler Geist und ausgeprägtes Nachtleben.
Spitzenverdienerin in Frankfurt
Rosemarie wird eine von 1200 Prostituierten der Stadt. Doch sie hat ein Alleinstellungsmerkmal: keinen Zuhälter, aber gepflegtes Auftreten und hochkarätige Kunden. Der Portier des „Frankfurter Hofes“ gibt ihre Telefonnummer gerne weiter. Sie wird zur Frankfurter Sehenswürdigkeit. Der Mann von Welt muss sie haben. Die Fotos von und mit ihr werden Statussymbole bei Herrenrunden. Später wird mancher dieser „Statisten“ derartige Fotos noch bereuen.
Die Freier zahlen bis zu 250 Mark. Sieben, acht, manchmal neun hat sie pro Tag. „Sie hat ihr Geld hart und gnadenlos zu sich selbst verdient“, weiß Biograf Steiger. Damit verdient sie bis zu 8000 Mark pro Monat, im Jahr um die 90 000. Brutto wie netto. Denn sie zahlt keine Steuern und hat ja keinen Zuhälter. Damit steht sie ganz oben an der Einkommenspyramide der jungen Bundesrepublik. Ein deutscher Arbeitnehmer verdient damals 6000 Mark im Jahr.
Im Mercedes-Ausstellungshaus gegenüber dem Nobelhotel „Frankfurter Hof“ bestellt sie sich ein Cabriolet 190 SL. Schwarz mit roten Ledersitzen und vielen Extras, 18 000 Mark. Und sie bezieht die Neubauwohnung in der Stiftstraße: Fahrstuhl, Fußbodenheizung, Parkett.
Die eigene Wohnung, das schätzen die Kunden an ihr. So müssen sie nicht in ein schmuddeliges Bordell. Und auch Rosemaries Auftreten ist elegant. Sie kann sich kultiviert unterhalten. Die Kunden fühlen sich auch außerhalb des Bettes wohl.
Sie werden immer exklusiver. An ihrer Spitze Harald Krupp von Bohlen und Halbach, Spross einer der reichsten Industriellenfamilien Europas. Aber ein gebrochener Mann, gerade erst, 1955, aus russischer Gefangenschaft heimgekehrt. Alle zwei Wochen kommt er zu Rosemarie, schickt ihr Postkarten und Briefe aus aller Welt. „Mein liebes Rehchen. Ich habe Sehnsucht nach Dir“, schreibt er: „Es tut mir leid, dass ich Sonntag nur so kurz bei Dir war, denn ich war da so glücklich.“ Er ist in sie verliebt, möglicherweise auch sie in ihn. Aber es ist eine Liebe ohne Zukunft. „Zum Heiraten müssten wir wohl auf den Mond fliegen“, schreibt er einmal.
Nitribitt wird mit Aschenbecher geschlagen
Was passiert, wenn diese Grenze überschritten wird, zeigt sich bei einem bekannten Rennfahrer, auch er ihr Kunde. 1957 kommt sie zu einem seiner Rennen. Das findet er nicht witzig, denn auch seine Frau ist da.
Andere sehen das lockerer. Wie Harald Quandt, Multimillionär, aber auch er eine gebrochene Figur: Seine Mutter heiratet 1931 Joseph Goebbels, hat mit ihm sechs Kinder. 1945 vergiftet sie alle und sich im Führerbunker. Harald, obwohl verheiratet, lädt die Nitribitt zu seinen legendären Partys in Bad Homburg ein.
Am 29. Oktober 1957 endet dieses Leben auf der Überholspur. Gegen 17 Uhr wird sie in ihrem Wohnzimmer mit dem Aschenbecher niedergeschlagen, hat eine stark blutende Platzwunde, ist aber nicht bewusstlos. Sie greift nach dem Telefonhörer, um Hilfe zu holen. Doch ihr Mörder reißt sie zurück und erwürgt sie.
Die Putzfrau wundert sich, dass drei Tage lang die Brötchen-Tüten vor ihrer Tür stehen und ruft die Polizei. Am 1. November, 17 Uhr, öffnen zwei Beamte die Wohnung. Im Schlafzimmer wimmert Hund Joe, im Wohnzimmer liegt die Eigentümerin vor dem Sofa. Tot. Neben ihr ein zerbrochener Aschenbecher und ein blutiger Telefonhörer.
Es beginnt eine Serie von Polizeipannen. Wegen des Geruchs der drei Tage alten Leiche öffnen die Polizisten das Fenster. So aber lässt sich später nicht mehr die Raumtemperatur, also der Todeszeitpunkt ermitteln, damit aber auch nicht das Alibi von Verdächtigen überprüfen. Zudem laufen am Abend unzählige Menschen durch den Tatort; alleine 15 Polizisten und 17 Journalisten.
Auf der Kommode steht ein Foto des Krupp-Erben; ein Polizist lässt es fürsorglich verschwinden. Überhaupt ist die Polizei bemüht, die prominenten Freier zu schützen. Harald Krupp von Bohlen und Halbach wird im Polizeipräsidium an einem Sonntag vernommen; und er darf durch den Hintereingang kommen.
Mehr als 60 Verdächtige
Theoretisch kommt jeder Freier in Frage; im Kalender der Nitribitt stehen 60 Namen. Der Kreis der Verdächtigen ist riesig. Am Ende bleibt Heinz Pohlmann, mit dem sie eine seltsame Verbindung pflegt. Pohlmann ist schwul. Wenn sie einen Kunden hat, der ihr nicht geheuer ist, wacht er in der Küche, er führt den Hund aus, kümmert sich um das Auto, kocht den geliebten Reisbrei.
Doch er hat ein langes Vorstrafenregister. Im Krieg wird er wegen Plünderung in Frankreich verurteilt, danach wegen Betrugs und Urkundenfälschung. Aktuell hat er Geld seiner Firma veruntreut. Es droht Anzeige, wenn er nicht zurückzahlt. Und tatsächlich verfügt er nach dem Mord über die notwendigen Mittel.
Im Juli 1960 beginnt gegen ihn der Prozess. Vor Gericht bilden sich lange Schlangen. Vor laufender Kamera verkündet der Richter das Urteil: „Dieses Schwurgericht hat nicht mit der letzten Überzeugung die Erkenntnis gewonnen, dass dieser Angeklagte Pohlmann unbedingt an der Tötung der Rosemarie Nitribitt schuldig sein muss.“ Ihr Geld habe er wohl gestohlen, doch des Mordes kann er wegen des unklaren Tatzeitpunktes nicht überführt werden.
Pohlmann zieht nach München und lebt dort bis zu seinem Tode 1990. Nitribitt wird in Düsseldorf beerdigt – allerdings noch ohne Kopf. Der bleibt als Beweismittel in Frankfurt und wird erst 2008 bestattet. Die Pflege ihres Grabes zahlt ein Boxer.
Den legendären Mercedes erwirbt die Mutter von Karl Lagerfeld, schenkt ihn zum Geburtstag dem Sohn, der ihn schrottet. Hund Joe kommt zu Bernhard Grzimek, dem Direktor des Frankfurter Zoos, danach für einige Jahre in ein Pudelstudio in der Niddastraße. Dort erlebt zumindest er ein friedliches Ende.
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