Mannheim. Reinhold Götz erinnert sich noch gut. „Als 15-Jähriger habe ich damals, 1969, die Regierungserklärung von Willy Brandt im Fernsehen verfolgt“, berichtet der heutige Vorsitzende der SPD-Fraktion im Mannheimer Gemeinderat. „Spätestens das war für mich der Anlass, mit 16 meinen Eintritt in die SPD zu erklären.“
Viele seiner Generation bewegt Willy Brandt ähnlich. Gut drei Jahrzehnte lang ist er eine der prägenden Persönlichkeiten der Bundesrepublik: Bürgermeister von Berlin, Bundeskanzler, SPD-Chef, Friedensnobelpreisträger. Ein Mann, dem dies alles nicht in die Wiege gelegt ist, als vor 110 Jahren sein Leben beginnt – unter einem ganz anderen Namen.
Im Alter von 19 flieht Willy Brandt aus Deutschland
Geboren wird er als Herbert Karl Frahm 1913 in der Dachwohnung eines Arbeiterviertels in Lübeck. Mutter Martha ist 19. Seinem Vater, einem John Möller, wird er nie begegnen, ja selbst seinen Namen lange Zeit nicht kennen. Erst mit 34 erfährt er ihn, als er 1947 seine Mutter danach fragt, weil er die Angabe für ein Dokument benötigt. Das familiäre Chaos wird für ihn zum Trauma und prägend für seine Schwierigkeit, sich Mitmenschen vollständig zu öffnen.
Die Mutter ist selten da, muss schuften, um sich und ihren Sohn durchzubringen. Doch der schafft es – und das in dieser Zeit, 20er Jahre! – aufs Gymnasium und, das Abitur zu machen. Heimat bietet ihm die Arbeiterbewegung: der Mandolinenclub, die Falken, bald die SPD. Nach der NS-Machtergreifung 1933 flieht er aus Deutschland. Gerade mal 19.
In einer Nacht im April 1933 besteigt er in Travemünde ein Fischerboot. Hinter Kisten und Tauwerk zusammengekauert übersteht er die Kontrolle des Zolls. Er landet in Norwegen. Als die Wehrmacht 1940 auch hier einmarschiert, flieht er ins neutrale Schweden. In der Zeit des Exils nennt er sich Willy Brandt.
Willy Brandt - quasi der deutsche Kennedy
Als Willy Brandt kehrt er 1945 nach Deutschland zurück – Angehöriger der norwegischen Militärmission in Berlin, also in Uniform eines „Feindstaates“; das Bild davon verwenden seine Gegner bis in die 70er Jahre.
In der Berliner SPD macht er Karriere, wird 1955 Abgeordnetenhaus-Präsident, 1957 Bürgermeister. Mit dem Mauerbau rückt die Stadt in den Fokus der Weltöffentlichkeit, damit auch Brandt. In New York wird er mit einer Konfettiparade geehrt, und er steht neben John F. Kennedy, als dieser durch Berlin fährt.
Mehr erfahren über Willy Brandt
- Beziehung zu Mannheim: Brandt war über 20 Mal in Mannheim, u. a. 1990 zur Verleihung der „Mannheimer Medaille“ der IG Metall. Auch der Platz vor dem Mannheimer Hauptbahnhof trägt seinen Namen.
- Ausstellung in Mannheim: Gestaltet von der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Bundesstiftung. Bis 7. 1. im Marchivum, Archivplatz 1, 68169 Mannheim, Di, Do-So 10-18 Uhr, Mi 10-20 Uhr, auch feiertags, außer 24. und 31. 12. Eintritt: 7 Euro (erm. 3,50), Führungen: 3. 12., 17. 12., 7. 1., jeweils 14 Uhr. Gebühr: Eintritt plus 2,50 Euro.
- Stiftung: 1994 gründete der Bundestag die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Bundesstiftung als parteiunabhängige Institution. Sitz (mit Dauerausstellung) ist in Berlin, derzeit Behrenstraße 15 (Parallelstraße zu Unter den Linden), bis der Neubau Unter den Linden fertiggestellt ist.
- In Brandts Geburtsstadt Lübeck: Willy-Brandt-Haus Lübeck, Königstraße 21, liebevoll gestaltete, multimediale Schau mit Dokumenten, Bildern, Filmen. Führungen möglich.
- Unkel: Die Stadt bei Bonn war ab 1979 letzter Wohnort von Brandt. Dort Museum (Willy-Brandt-Platz 5, 53572 Unkel/Rhein). Mit originalgetreu rekonstruiertem Arbeitszimmer aus seinem Privathaus in Unkel.
- Grab: Waldfriedhof Berlin-Zehlendorf in der Abteilung VII-W-551/552.
- Literatur: Online-Biographie der Stiftung www.willy-brandt-biografie.de; „Links und Frei: Mein Weg 1930-1950“, Memoiren Brandts von 1982 über seine Frühzeit; „Erinnerungen“, Memoiren von 1989, die auch seine Kanzlerschaft umfassen; „Willy Brandt“, Biografie der Witwe Brigitte Seebacher-Brandt von 2013. -tin
Seine Partei nominiert Brandt zum Kanzlerkandidaten, mit 47 das komplette Kontrastprogramm zum 85-jährigen CDU-Kanzler Adenauer, quasi ein deutscher Kennedy. Doch die Konservativen kämpfen mit allen Mitteln, thematisieren Herkunft, Privatleben, Exil. „Herr Brandt alias Frahm“, giftet Adenauer. Und Franz Josef Strauß fragt: „Was haben Sie zwölf Jahre gemacht? Wir wissen, was wir gemacht haben“, sagt der Chef der CSU, in der sich Ex-Nazis tummeln. Sein Parteifreund Richard Jaeger ist noch infamer: Brandt wolle wohl wie „Adolf Hitler, dessen Familienname eigentlich Schicklgruber war, unter fremdem Namen in die Geschichte eingehen.“ „Das tat weh“, gesteht Brandt später.
In Mannheim legen 10 000 Beschäftige ihre Arbeit nieder
Bei den Bundestagswahlen 1961 und 1965 reicht es für Brandt nicht, doch die Union ist geschwächt und geht 1966 mit der SPD die Große Koalition ein. Brandt wird Vize von CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger, einem Ex-Nazi. 1969 reicht es mit der FDP für eine Mehrheit. Der ehemalige Emigrant wird Kanzler. „Nun hat Hitler den Krieg endgültig verloren“, sagt Brandt noch in der Wahlnacht.
Seine Amtszeit währt nicht einmal fünf Jahre, gilt dennoch als eine Ära. Denn sie verändert Deutschland mehr als etwa 16 Jahre Angela Merkel. Unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ setzt Brandt im Inneren ein überfälliges Reformprogramm um, außenpolitisch die Versöhnung mit dem Osten. Symbolisch 1970 sein Kniefall am ehemaligen Jüdischen Ghetto von Warschau. Dafür erhält er den Friedensnobelpreis. Doch Gegner im Lande schäumen: „Brandt an die Wand!“
Auch Abgeordnete aus SPD und FDP wechseln die Seiten, die Koalition verliert ihre Mehrheit. CDU-Chef Rainer Barzel versucht, Brandt abzuwählen. Brandts Anhänger sehen in diesem völlig legalen Konstruktiven Misstrauensvotum eine Art „Staatsstreich“; aus Protest legen etwa in Mannheim 10 000 Beschäftigte die Arbeit nieder. Die Leute stehen vor Fernsehgeschäften, in Schulen sitzt man am Radio, als am 27. April 1972 das Misstrauensvotum ausgezählt wird. Es scheitert. „Der Frieden ist durchgekommen“, ruft eine Frau auf dem Münchner Marienplatz. Barzel fehlen zwei Stimmen. Jahre später erfährt man, dass die Stasi zwei Unions-Abgeordnete bestochen hat.
Dennoch: Brandt hat keine Mehrheit. Es kommt zu Neuwahlen und unter dem Motto „Willy wählen!“ zu einer Mobilisierung wie nie zuvor. Es gibt sogar ein Lied; ein Mädchen mit langen Haaren trällert: „Oh, Willy Brandt/Es ist uns bekannt/Du stehst für Frieden/Und Freiheit im Land.“ „Der Mann brauchte nur eine Halle zu betreten, er hatte noch kein Wort gesprochen, und den Menschen standen die Tränen in den Augen“, erzählt „stern“-Urgestein Hans-Ulrich Jörges und bekennt: „Mir auch.“
1983 kommt Brandt zweimal nach Mannheim
Dank Brandt holt die SPD 1972 fast 46 Prozent (heute sind es laut Umfragen 15). Doch von da an geht es bergab. Der Sieg macht manche übermütig. Die Gewerkschaft ötv fordert 15 Prozent mehr Lohn, und das inmitten einer Ölkrise mit autofreien Sonntagen. Manche in der Partei werfen Brandt Führungsschwäche vor. „Der Herr badet gern lau“, stichelt Fraktionschef Herbert Wehner. Hinzu treten gesundheitliche Probleme bis hin zu Depressionen. Tagelang ist Brandt – heute undenkbar – in der Öffentlichkeit nicht zu sehen, liegt im Bett.
Und dann wird auch noch sein enger Mitarbeiter Günter Guillaume als DDR-Agent enttarnt. 1974 tritt Brandt zurück. Helmut Schmidt wird Kanzler, aber nicht SPD-Chef. Das bleibt Brandt, widmet sich der Basis mit Inbrunst. Gleich zwei Mal etwa ist er 1983 im Mannheimer OB-Wahlkampf, um SPD-Kandidat Gerhard Widder zu unterstützen.
Immer wieder ein Comeback
Auch privat orientiert er sich neu: Nach 32 Jahren lässt er sich 1980 von Rut scheiden. Die Neue ist die junge Historikerin Brigitte Seebacher. Sie verleiht ihm neue Lebensfreude. Auch politisch startet er durch: Im Nachrüstungsstreit 1981 schlägt er sich auf die Seite der demonstrierenden Jugend, der Gegner des Doppelbeschlusses, damit seines Kanzlers.
1982 stürzt Schmidt, 1983 hört auch der kranke, alte Wehner auf. Brandt ist der einzige aus der Troika, der politisch überlebt. Aber auch er scheitert, an einer Lappalie. Als Parteisprecherin will er 1987 die Historikerin Margarita Mathiopoulos, gescheit, aber keine Genossin. Die Partei ist empört, die Gremien sagen Nein. Beleidigt tritt Brandt zurück.
Doch dann erneut ein Comeback. Am 9. November 1989 geht er früh zu Bett, verschläft die Maueröffnung. Tags darauf fliegt er nach Berlin. Als er in seinem alten Büro im Schöneberger Rathaus sitzt, kommen ihm die Tränen. „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“, wird er sagen, Kontrastprogramm zu seinem politischen Enkel Lafontaine.
Besuch von Helmut Kohl kurz vor dem Tod
1991 wird Darmkrebs diagnostiziert. Nur hohe Dosen Morphium bringen ihn über den Tag. Kurz vor seinem Tod, am 27. August 1992, rafft er sich noch einmal auf, zieht sogar seinen Anzug an. „Ich werde doch nicht liegen bleiben, wenn mein Bundeskanzler kommt.“ Denn Helmut Kohl hat sich angesagt. In dem Gespräch äußert Brandt einen letzten Wunsch: Staatsbegräbnis mit Ehrenformation der Bundeswehr.
So kommt es: Gefolgt von der gesamten Staatsführung, 1400 Gästen aus aller Welt, tragen Soldaten den mit der deutschen Fahne bedeckten Sarg die Treppen des Reichstages hinab – ein Bild, wie von Brandt ersehnt. „Als letzter Stempel dafür, in seinem Volk akzeptiert zu sein“, sagt sein langjähriger Weggefährte Egon Bahr: „Am Ende war er zuhause.“
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