Zeitreise

Alterssitz von Theodor Heuss: Papas Häuschen

Vor 60 Jahren ist Deutschlands erster Bundespräsident Theodor Heuss in einem Stuttgarter Einfamilienhaus gestorben. Es war sein Alterssitz und ist heute ein beeindruckender Ort, der über die Person Heuss und das Amt des Staatsoberhaupts informiert

Von 
Peter W. Ragge
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Er wollte nie, dass sein „Häusle auf dem Killesberg Wallfahrtsort wird“, sagte Bundespräsident Theodor Heuss. Aber der Besuch in dem bescheidenen Einfamilienhaus mit den im Original erhaltenen Räumen lohnt sich. © Franziska Kraufmann

Stuttgart. Etwas fehlt: der Geruch. „Wir haben versucht, alles so originalgetreu wie möglich einzurichten“, sagt Thomas Hertfelder, der Geschäftsführer der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, „aber der Zigarrengestank – der ist weg“. Doch lange habe es „hier überall gerochen“, so Hertfelder, denn das einstige Staatsoberhaupt, das in dem bescheidenen Einfamilienhaus auf dem Stuttgarter Killesberg lebte und hier am 12. Dezember 1963 starb, zog nahezu ständig an einer Zigarre.

Aber vom fehlenden Qualm abgesehen, ist hier sehr authentisch bis ins Detail zu sehen, wie der erste Bundespräsident gelebt und gearbeitet hat. Freilich dienen ihm die Räume „nie offiziellen repräsentativen Zwecken“, betont Hertfelder, „es war der private Lebensbereich des Alt-Bundespräsidenten“. Eingezogen ist Heuss nämlich erst am 16. September 1959, am Ende seiner Amtszeit in Bonn. Danach wohnt er in Stuttgart sehr zurückgezogen, empfängt selten offizielle Gäste. „Jetzt ganget no hoim zu eure Kinda ond lasset mir mei Ruh“ als Satz zur Menschenmenge bei seinem Einzug ist dazu ebenso als Zitat von ihm überliefert wie der Wunsch, er wolle „nicht, dass das Häusle auf dem Killesberg ein Wallfahrtsort wird“.

Mit Bausparvertrag gezahlt

Und doch lohnt der Besuch, zumal das Haus als authentischer Ort deutscher Demokratiegeschichte erst in diesem Jahr saniert und mit zwei neu konzipierten Dauerausstellungen wiedereröffnet worden ist. Getragen wird es von einer Stiftung. Sie verwaltet laut Hertfelder „einen der größten Politikernachlässe der Bundesrepublik“, sind von Heuss doch unzählige Briefe – geschätzt werden 60 000 (!) – und Texte vorhanden. Selbst als Bundespräsident hat er gerne Bürgerbriefe selbst beantwortet, „das kann man am Diktatzeichen und am Stil erkennen – aber er hat dann einen Referenten unterschreiben lassen, damit kein Handel mit seiner Unterschrift getrieben wird“, weiß Hertfelder.

Theodor Heuss: und immer rauchte er Zigarre. © Stiftung Theodor Heuss Haus

Mitte der 1990er Jahre erwirbt die Stiftung das Haus, das nach dem Tod von Heuss zunächst als Archiv gedient hat und ab den 1970er Jahren privat vermietet worden war, von der Familie Heuss. 2002 erstmals eröffnet, ist es nun sehr ansprechend neu gestaltet worden.

Das Herzstück bilden seine privaten Räume. Bereits Anfang der 1950er Jahre hatten Heuss und seine Frau dieses Grundstück in Stuttgarter Halbhöhenlage erworben. Den Bau des eingeschossigen, völlig unscheinbaren Bungalows ohne jeden Prunk finanziert Heuss auf typisch schwäbische Art – mit einem Bausparvertrag bei der Bausparkasse Wüstenrot. Als er einzieht, ist er bereits Witwer. Seine Schwägerin führt den Haushalt. „Er wollte hier in erster Linie ungestört lesen und Memoiren schreiben“, sagt Hertfelder.

Der Garten – mit typischen Spaghetti-Liegestühlen jener Jahre – ist in den früheren Zustand versetzt worden, ebenso der Wohnbereich mit Wohn-, Ess- und Arbeitszimmer. Ausgestattet ist er mit charakteristischen 50er-Jahre-Möbeln, etwa Sessel mit einem für diese Zeit typischen Epinglé-Wollstoff in Pastellfarben und mit schrägen Füßen, einem niedrigen Messing-Tischschen mit Mosaik im Wohnzimmer, Regalen, Schränken, auch eine kostbare Barockkommode. „Ein Familienerbstück“, so Hertfelder, und alle Möbel seien Original von Heuss erhalten.

Besonders beeindruckend ist die von Heuss gesammelte Kunst. Ein Stafelalp-Panorama von Ernst Ludwig Kirchner ist hier zu sehen, eine Havel-Ansicht von Max Liebermann und ebenso von ihm ein Porträt des von Heuss sehr verehrten Pastors und liberalen Politikers Friedrich Naumann. Über der Heizung hängt ein bemerkenswertes Werk, das Heuss aus seinem Bonner Amtszimmer mitgenommen hat: „Parteienpanorama“ des schwäbischen Malers Reinhold Nägele, das die Kräfte der Weimarer Republik zeigt: stark sind rot und schwarz, aber man sieht schon kleine braune Männchen . . .

Ein Blick in das Arbeitszimmer. © Franziska Kraufmann

Im Arbeitszimmer hat man schließlich den Eindruck, das frühere Staatsoberhaupt sei gerade mal eben kurz aufgestanden. Ein Füller und ein Brieföffner liegen da, Umschläge und Briefbögen, ein altes Röhrenradio steht da. „Heuss hatte keinen Fernseher“, weiß Hertfelder, „aber er war passionierter Zeitungsleser“, weshalb sechs Ausgaben regionaler und überregionaler Zeitungen von 1963 auf seinem Schreibtisch aufgereiht sind. Besonders gerne hat Heuss in dem von dem Designer-Paar Charles und Ray Eams entworfenen Liegesessel – heute als „Lounge Chair“ bekannt – gelesen.

Beeindruckende Bibliothek

Die Zahl der Bücher scheint unermesslich – und nur ein Teil der Bestände ist hier ausgestellt. Die ringsum laufende Bücherwand geht vom Boden bis zur Decke, hat acht vollgestellte Reihen. „Es ist überwiegend politische und historische Literatur, Memoiren von Politikern, auch Bände eigener Reden“, zählt Hertfelder auf. Selbst Texte von Karl Marx und Adolf Hitler sind zu finden. Aber auch die über 200 Bände der Ende des 19. Jahrhunderts, gebunden in Schweinsleder, herausgegebenen Sammlung „Deutsche National-Litteratur“ stehen im Regal.

Presseschau und Aschenbecher: der Schreibtisch von Theodor Heuss. © Stiftung Theodor Heuss Haus

Manches Buch hat eine eigene Geschichte. So hat der damalige SPD-Vorsitzende Willy Brandt dem Altbundespräsidenten „mit ergebenen Grüßen“ sein Büchlein „Koexistenz – Zwang zum Wagnis“ geschickt. Es ist ein Dank dafür, dass Heuss Brandt gegen heftige Kritik von Konrad Adenauer wegen seines Exils in der Nazi-Zeit in Schutz genommen hat.

Das zeigt: Man kann hier tief eintauchen in die deutsche Nachkriegsgeschichte. Dabei ist der Bungalow viel mehr als nur ein Beweis für den bescheiden-zurückgezogenen Lebensstil des ersten Staatsoberhaupts. „Was unser Haus auszeichnet, ist, dass er tatsächlich ein authentischer Ort ist und zugleich das einzige Museum, das das Amt des Bundespräsidenten und die Biografie eines Amtsinhabers und seiner Frau dokumentiert“, betont der Geschäftsführer, „denn wir wollen zeigen, dass es Menschen sind, die Demokratie erst ermöglichen“.

Tatsächlich sind neben den original eingerichteten Räumen dort, wo der Hausmeister wohnte, wo Heizungs- und Weinkeller waren, gleich zwei modern gestaltete, hoch informative Dauerausstellungen mit 420 Quadratmetern und 44 Medienstationen entstanden: „Demokratie als Lebensform. Theodor Heuss und Elly Heuss-Knapp“ sowie „Die Nr. 1“ zum Amt des Staatsoberhaupts.

Das beginnt mit einem Aha-Effekt. Wer sie betritt, wird – durch Lichtschranke ausgelöst – so begrüßt, wie es dem Amtsinhaber gebührt. „Meine Damen und Herren, der Bundespräsident!“ sagt eine Stimme, und auf einem Bildschirm ist zu sehen, wie Besucher einer Veranstaltung sich vom Platz erheben. „Er ist eben der oberste Repräsentant der Bundesrepublik“, unterstreicht Hertfelder, und dies belegt auch das hier gezeigte Autokennzeichen: 0 – 1 lautet es.

Macht des Wortes

Nur der Bundespräsident trägt die „Sonderstufe des Großkreuzes des Bundesverdienstordens mit Stern und Schulterband“, mit handgesticktem Bundesadler auf dem Ordensband. Das lässt sich hier ganz aus der Nähe bewundern. Aber von der Repräsentation des Staates abgesehen hat der Bundespräsident keine politische Macht. „Er hat die Macht des Wortes“, erklärt Hertfelder, weshalb sich in der Ausstellung Tondokumente von je einer bedeutenden Rede der bisherigen elf Amtsinhaber abrufen lassen.

Aber wie sieht so ein Arbeitsalltag eines Staatsoberhauptes aus? „Kanzler machen“ (sprich ernennen) wird am Beispiel der Ernennungsurkunde für Olaf Scholz gezeigt, Ehrungen erklärt, die Übernahme der Ehrenpatenschaft für jedes siebte Kind, Glückwünsche zur Eisernen Hochzeit, die Unterzeichnung internationaler Abkommen. Zum Amt gehört auch das Gnadenrecht („Ein Überbleibsel der Monarchie“, wie Hertfelder meint). Man darf auch schmunzeln, wenn einem hier wieder begegnet, was von bestimmten Bundespräsidenten wohl ewig in Erinnerung bleiben wird: Von Walter Scheel eine signierte Schallplatte mit dem Lied „Hoch auf dem gelben Wagen“, von Karl Carstens ein Wanderbuch und zu Christian Wulff die Schlagzeile „Aus!“ zum Rücktritt im Februar 2012.

Ein Abschnitt ist eigens den Ehefrauen der Bundespräsidenten gewidmet, oft „First Lady“ genannt. „Das Grundgesetz verliert über sie kein Wort, dennoch kommt ihnen eine ungemein wichtige Aufgabe zu – und jede hat sie auf andere Art ausgefüllt“, sagt Hertfelder. Elly Heuss-Knapp etwa gründet 1950 das Müttergenesungswerk mit dem Ziel, das Werk mit Spenden zu finanzieren und zudem Mütterkuren gesetzlich zu verankern – also nicht allein eine soziales, sondern ein politisches Ziel. Sie ist nämlich, was die Ausstellung zur Biografie des Ehepaares zeigt, „eine für ihre Zeit ungemein politische und fortschrittliche Frau“, hebt Hertfelder hervor.

Tipps für Besucher

Anschrift: Theodor-Heuss-Haus, Feuerbacher Weg 46, 70192 Stuttgart,
Internetwww.theodor-heuss-haus.de, E-Mail: heusshaus@stiftung-heuss-haus.de

Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, auch an Feiertagen. Geschlossen am 24./25.12. und 31.12.2023 sowie 1.1.2024.

Eintritt: Erwachsene: 2 Euro (Mediaguide inklusive), Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren: Eintritt frei (Mediaguide inklusive). Der Rundgang durch die Wohnräume (ohne Mediaguide) ist kostenfrei.

Anfahrt: Ab Stuttgart Hauptbahnhof mit U5 oder Bus 44 bis Endhaltestelle Killesberg. Dann ausgeschilderter Fußweg (10 Minuten). Mit dem Auto von der Stuttgarter Innenstadt kommend der B 27 Richtung Killesberg fahren. Dann der Ausschilderung „Theodor-Heuss-Haus“ folgen. Öffentlicher Parkplatz „Bismarkturm“ (Parlerstraße).

Gedenkfeier: Am 12. Dezember öffentliche Gedenkfeier mit Kranzniederlegung auf dem Waldfriedhof, Stuttgart-Degerloch (15 Uhr Treffen am oberen Haupteingang). pwr

Dafür spricht ja schon, dass die am 25. Januar 1881 geborene Lehrerin nach der Heirat 1908 einen Doppelnamen führt. Sie stammt aus einer Straßburger Professorenfamilie, absolviert 1899 das Lehrerinnenexamen, erteilt Unterricht in einer Privatschule, hält Vorträge. „Sie fährt gerne Fahrrad, auch das ist damals für eine Frau ungewöhnlich“, so Hertfelder. Und sie schreibt ein Buch: „Bürgerkunde und Volkswirtschaftslehre für Frauen“.

Nicht nur da erweist sie sich als kreativ. Als sie während der Nazi-Zeit nicht mehr unterrichten darf und ihr Mann weitgehend kaltgestellt wird, schafft sie es, die Familie zu ernähren. Elly Heuss-Knapp ist die Erfinderin von Werbejingles im Rundfunk, produziert Kinowerbung für viele bekannte deutsche Markenartikel von Erdal über Persil bis Nivea und Hansaplast.

Von Nazis bedrängt

Für Heuss ist in der Nazizeit das „Leben ziemlich eingeschrumpft“, wie er 1933 an Freunde schreibt. Am 31. Januar 1884 in Brackenheim bei Heilbronn geboren, studiert er Nationalökonomie in München und Berlin. Nach der Promotion über „Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn a. N.” holt ihn Friedrich Naumann 1905 in die Redaktion der Zeitschrift „Die Hilfe“, wo er zunächst überwiegend Feuilleton-Beiträge verfasst.

1912 wird er Chefredakteur der „Neckar-Zeitung“ in Heilbronn, 1918 Schriftleiter der Zeitschrift „Deutsche Politik” in Berlin. 1924 zieht Theodor Heuss für die Liberalen als jüngster Abgeordneter in den Reichstag ein. Dem Ermächtigungsgesetz, das 1933 Adolf Hitler an die Macht birgt, stimmt er zu – aus Fraktionsdisziplin. Denn er müsste es besser wissen, hat er doch 1932 selbst in dem Buch „Hitlers Weg“ deutlich die Gefahren aufgezeigt.

Heuss sei „kein Widerstandskämpfer gewesen“, stellt Hertfelder klar, aber als Politiker wie als Journalist kaltgestellt. Er hält sich über Wasser, indem er Bücher schreibt – etwa die Biografie von Robert Bosch. Weil seiner herzkranken Frau der Berliner Bombenkrieg zusetzt und auch die Gestapo ihn im Visier hat, zieht er 1943 nach Heidelberg in eine Dachwohnung in Handschuhsheim.

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„Beim Teppichklopfen“, wie Hertfelder weiß, stöbert ihn da kurz nach Kriegsende ein amerikanischer Offizier auf, weil er auf einer „weißen Liste“ unbelasteter Männer steht. Die Amerikaner gewinnen ihn mit dem Sozialdemokraten Hermann Knorr und dem Kommunisten Rudolf Agricola als Lizenzträger für die neu zu gründende „Rhein-Neckar-Zeitung“, die erstmals am 5. September 1945 in Heidelberg erscheint. Zugleich wird Heuss am 24. September 1945 „Kultminister” für Württemberg-Baden und 1948 Mitglied im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz erarbeitet.

Die erste Bundesversammlung wählt ihn am 12. September 1949 zum Bundespräsidenten. Dass er derart populär wird, dass sogar über eine – im Grundgesetz nicht vorgesehene – dritte Amtszeit nachgedacht wird, hätte er sich nie träumen lassen. Auch wenn das Volk ihn „Papa Heuss“ nennt, so schätzt er das gar nicht. „Ich verbitte mir familiäre Anbiederung“, schimpft er. „Er wollte nicht der Opa der Nation sein“, so Hertfelder. Am 12. Dezember 1963, vier Jahre nach seinem Ruhestand, stirbt Theodor Heuss in dem Häuschen in Stuttgart, weil er sich von der Amputation seines Raucherbeins nicht mehr erholt.

Redaktion Chefreporter

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