Mannheim. Endlich! Das Nationaltheater hat es geschafft, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Die Geschlechtergrenzen sind gänzlich aufgelöst. Nicht nur mit genderneutralen Toiletten im Alten Kino Franklin gelang dies lang ersehnte Unterfangen, nein, auch mit der Besetzung von Nikolai Gogols fünfaktiger Komödie aus dem Jahre 1836.
Diesen Erfolg erreichte man in drei Stufen. An fing es vor langer Zeit, als sich Dramaturgen zu recht fragten, warum ein King Lear nicht auch eine Queen, ein Hamlet nicht auch mal eine Hamletin sein kann, sind die Probleme des Menschseins und der Macht doch per se geschlechterneutral. Das war gut so. Im zweiten Schritt spielten in der Gesellschaftsöffnungsmaschine Theater dann biologische oder individuelle psychologische Geschlechtsidentitäten eine Rolle. Männer mit Bart und Fummel wurden zu Müttern und Herzoginnen. Jedem das seine, man hat sich daran gewöhnt.
Wir befinden uns nun in Stufe drei: der genderfluiden Rollenverteilung. Und die geht so: Männer und Frauen sind als solche zu erkennen, werden aber etwa als Frauen von ihren Ehepartnerinnen als „mein Mann“ und Männer von ihren Vätern (gespielt von einer Frau) als „meine Tochter“ vorgestellt. Alles klar? Um diese Fluidität zu verbildlichen hat Kostümbildner Korbinian Schmidt das zehnköpfige Ensemble in pastellfarbene Glitzerabendkleider gesteckt und auf - an die Kothurne griechischer Tragödien erinnernde - Plateau-Turnschuhe gestellt. In der Antike spielten, wie später auch bei Shakespeare, Männer Frauen. So viel dramaturgische Unterfütterung muss schon sein.
Die korrupten Honoratioren einer Stadtgesellschaft geraten in Panik
Mit Goethe ließe sich die Eröffnung so beschreiben: „Uns ist ganz kannibalisch wohl als wie fünfhundert Säuen“. Getanzt wird in hübscher Choreographie. Im Kreis, in Reihe, mit Armwedeln und allerlei Partyfrohsinn. Denen, der korrupten Macht-Clique einer russischen Kleinstadt, geht es gut. Man bedient sich privat an staatlichen Fördertöpfen, kassiert Gelder für ein nie gebautes Pflegeheim, vergibt Bauaufträge an die eigene Gattin, lässt sich schmieren, wo es lohnt und geht: „Ich weiß, dass du, wie jeder von uns, Dreck am Stecken hast, denn du bist ein intelligenter Mensch.“
Zehn Minuten geht der wilde Tanz auf Anna Wohlgemuths perspektivisch schöner, aber wenig genutzter Industriestadt-Bühne. Insgesamt wird gut 20 von 105 Theaterminuten getanzt. Dann bricht das Unglück herein: Das Erscheinen eines Revisors, neudeutsch Controllers, wie es in der nochmals bearbeiteten Übertragung Ulrike Zemmes heißt, wird gerüchteweise avisiert.
Buchprüfung! Panik. Den inkognito reisenden Beamten, den es zu schmieren gilt, meint man schnell ausgemacht zu haben: Fabio Benedikt Aiwanger-Chlestakow (Annemarie Brüntjen). Doch der ist ein Windbeutel, Aufschneider und Betrüger. Und so bekommt, die humoristischen Regeln der Komödie wollen es so, jeder, was er verdient.
Possierlich anzuschauen ist der Betrug an den Betrügern, die in Mannheim im Laufe des Spiels flugs vom Stadthauptmann, Richter, Armenhausdirektor, Lehrer und Postmeister zum jovialen Oberbürgermeister (Jessica Higgins) nebst Dezernenten werden. Es kommt zu gelungenen Spielszenen, etwa zwischen OB-Gattin und Bauunternehmerin Anna (Sarah Zastrau) und Tochter Mascha (David Smith) oder Chlestakow-Adlatus Ortlieb (Paul Simon), der auch schön Carmens Habanera stampfen kann. Den ganz großen Klamauk lässt Regisseur FX Mayr in der Werkzeugkiste, was bei dem gewählten Setting umso erstaunlicher ist. Ein paar Buhs gibt es hinterher trotzdem. Dennoch: Es hätte schlimmer kommen können.
Die Übertragung in das Hier und Heute will trotzdem nicht ganz gelingen, sie hat „ein rhetorisches Narrationsproblem.“ Zwar blubbern zeitgenössische Polit-Luftblasen („Gestalten satt Verwalten“, „Ich fühle mich gehört“) und Zitate („Wer bei uns Führung bestellt, bekommt sie auch“) durch die Inszenierung wie heiße Luft durch den Whirlpool, in dem sich der korrupte Kommunalklüngel von der Verwaltungsarbeit erholt. Doch wirklich komisch ist das nicht. Auch die Frage, was hat das mit uns zutun, müsste eher mit „Nichts!“ beantwortet werden.
Ein „Narrationsproblem“ und „Das das Beste kommt zum Schluss“
Ein paar gute Tricks hat FX Mayr dennoch auf Lager. Die Verunsicherung über Vertrauens- und Geschlechterverhältnisse spiegelt er in permanent zweifelnden Anrede-Situationen zwischen „du“ und „Sie“.
Und, wie so oft, kommt das Beste zum Schluss: Die Erwartung einer ausgelassenen Auflösung durch Eintreffen des echten Revisors, bricht der Regisseur durch launigen Abbruch des Schlussapplaus (groß: Patrick Schnicke als „Schwalinsky“). Es sind dies die intensivsten und heutigsten fünf Minuten des Abends.
Kommen wir zurück zum Anfang, zur Antike, Shakespeare und der genderfluiden Besetzung. Wer sie als moderne Errungenschaft einer geschlechtsneutralen Gleichberechtigung feiert, sollte bedenken, dass sie historisch gesehen für patriarchalische Unterdrückung stand, war es Frauen doch verboten, auf einer Bühne zu stehen. Dass nun alle Agierenden Frauen im Kleid sein müssen, ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt in die Theatersteinzeit. Aber einer, den man gut gemeint „woke“ angestrichen hat.
Nikolai Gogols „Der Revisor“ am Nationaltheater
- Die Inszenierung stammt vom österreichischen Regisseur FX Mayr, der im Januar mit „Als die Götter Menschen waren“ seinen Einstand am NTM gab, das Bühnenbild von Anna Wohlgemuth, die Kostüme von Korbinian Schmidt. Musik: Martina Berther, Licht: Bernard Häusermann, Dramaturgie: Franziska Betz.
- Es spielen: Jessica Higgins, Matthias Breitenbach, Maria Munkert, Patrick Schnicke, Shirin Ali, Sandro Sutalo, Sarah Zastrau, David Smith, Annemarie Brüntjen und Paul Simon.
- Weitere Vorstellungen am 4., 13. und 28. Dezember sowie auch am 5., 10. und 18. Januar 2025. Karten gibt es telefonisch unter 0621/1680 150, an der Theaterkasse in O 7, 18 oder per E-Mail an nationaltheater.kasse@mannheim.de rcl
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