Sie habe die Schnauze voll, sagt Caro. Es ist nicht so, dass sie sofort rot anläuft. Aber das kommt noch. Satt habe sie all die Lügner in der Politik, die Leute, die mit der Angst der Menschen spielten, nur um an die Macht zu kommen und sich so zu bereichern, die am rechten und linken Rand bei den populistischen Parteien angeln gehen und somit böse, hinterlistig und gemeingefährlich sind und die …“
„Moooment“, grätscht Alya rein, „nicht die Politikerinnen und Politiker sind das Problem. Die haben das Recht zu lügen. Lügen ist eines der wenigen Dinge, die uns bestätigen, dass es Freiheit gibt.“ Bela sagt „Schwachsinn!“, und Caro ist auf der erwähnten Entwicklung von Hautfarben zu Korallenrot. Obwohl sie Alya „im Prinzip“ recht gebe, sei es doch ein Unterschied, ob ich lüge, „mir geht es blendend, obwohl ich krank bin“, oder ob ich ein ganzes Volk anlüge. Oder: die ganze Welt, wie Putin, Trump oder Musk.
Ehrlich gesagt: Ich überlege lang, ob ich mich hier einmischen will. In meinem Kopf spielen die Gedanken Schach. In einer Welt der Wahrheiten, so denke ich, ist das Lügen natürlich ein politisch radikaler Akt. Ein Handeln. Umgekehrt ist in Autokratien, die auf Lügenkonstrukten basieren, wiederum die Wahrheit revolutionär und politisch. Beides wird verfolgt: die Wahrheit in der Lügengesellschaft und die Lüge in der Wahrheitsgesellschaft. Vielleicht leben wir hier in Deutschland in einer Wahrheitsgesellschaft, und das Lügen all der Verschwörungstheoretiker, Pandemie- oder Klimawandelleugner ist eine üble Logik, ein Auflehnen gegen die Wahrheit und also ein wirklich politischer Akt. Ich meine: Wie wirklich ist Wahrheit, wenn sie sich – gerade in der komplexen und gemeinsamen öffentlichen Welt von heute – als ohnmächtig erweist?
„In jedem Fall“, höre ich nun die auf Stufe fünf auf der Korallenskala angelaufene Caro, „ist es wohl Zeit für neue Revolutionen – gegen die Lüge, gegen die Reichen, gegen Assholes wie Musk, die ihre verdammten Milliarden in Macht umwandeln und nach interstellarer Hegemonie streben. Das ist doch dasselbe wie früher in der Feudalgesellschaft oder im Absolutismus. Könige, Kaiser, Fürsten – das waren nichts anderes als Sprösslinge aus Verbrecherfamilien, die durch Ausbeutung zu Geld kamen, das sie in Macht umgewandelt haben. Wie Musk.“
Alya bemerkt, was ihr spürbar schwerfällt, dass Caro „wohl recht“ habe, habe die Französische Revolution doch nichts anderes erstrebt als sozioökonomische Strukturveränderungen, die Abschaffung des feudal-absolutistischen Ständestaats und die Durchsetzung der grundlegenden Werte der Aufklärung. Und was sei der heutige Turbokapitalismus denn anderes als eine Fortentwicklung des feudalen Systems: „Das hat ja der vollbärtige Mann aus Trier schon erkannt.“
Bela regt sich auf und meint, wir würden die Lügen von Vollidioten heiligen und zur Revolution aufrufen: „Ihr seid zum Kotzen, Dilettantinnen, die zu Verschwörungstheoretikern werden. Ihr seid gefährlich.“ Jetzt ist Caro auf Stufe zehn auf der Korallenskala angekommen. Zum Glück habe ich meinen Mund gehalten.
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