„Und das ist Herr Müller, unser neuer Mitarbeiter.“ Alle Augen wenden sich in Richtung des Eintretenden, eines schmächtigen jungen Mannes, dem man die Unsicherheit in den Augen ablesen kann. Er blickt in die reine Männerrunde, die sich um einen großen ovalen Tisch versammelt hat. Herr Müller hat die ungeteilte Aufmerksamkeit der Anwesenden, die ihn stillschweigend mit abschätzenden Blicken mustern. Er kann die Gedanken förmlich hören: „Was ist denn das für ein Jüngelchen? Hätte der Alte ja gleich eine Frau einstellen können. Sieht mir nicht gerade wie jemand aus, der unser Team voranbringen könnte. Wie ist der nur an den Job gekommen, hochgeschlafen scheidet ja eher aus? So gewöhnlich wie sein Name. Naja, mal abwarten.“
Oliver Müller zerrt unauffällig an seinem Hemdkragen und lockert die ungewohnte Krawatte. Das ist ja noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe, denkt er, und merkt, wie ihm das schweißnasse Hemd unter dem Jackett am Rücken klebt. Er schaut sich verstohlen um. Dass er bei der Firma Wunnert, einem großen Unternehmen im Bereich Ladenbau, nicht auf ein junges hippes Team treffen würde, hat er gewusst. Aber so ein Sammelsurium an alten weißen Männern! Das ist fast etwas zu viel an Klischee.
Und überhaupt, was ist mit der Frauenquote? Wo sind die Frauen? Keine da, zumindest nicht in der Chefetage. Die obligatorische Sekretärin natürlich ausgenommen. Die saß vorhin bei seiner Ankunft in voller Pracht hinter ihrem Schreibtisch. Iris, „unsere Vo-Zi-Da“, ist die gängige Titulierung der Vorzimmerdame, die Abkürzung jedes Mal mit einem anzüglichen Grinsen geäußert, und eines der vielen Interna, die Oliver in den nächsten Tagen erfahren sollte. Er grinst seinerseits. Genau deswegen ist er hier. Er beobachtet und schweigt.
Erzähl mir was, 6. Auflage
- Die Schlussrunde : Unter den rund 50 Geschichten, die Leserinnen und Leser zum Thema „Macht und Mensch“ eingereicht hatten, hat die Jury dieser Redaktion nun die ihrer Meinung nach zwölf besten für das Finale bestimmt. Sie finden sich in unserem Themenschwerpunkt "Erzähl mir was".
- Die Onlineabstimmung: Unsere Leserinnen und Leser können dann vom 27. August bis 5. September 2025 online abstimmen , wer die ersten sechs Plätze des Wettbewerbs belegt.
- Abstimmung unter: mannheimermorgen.de/erzaehlmirwas
Es ist immer das Gleiche. Zu später Stunde und mit steigendem Alkoholkonsum werden die Gespräche der Clique hitziger, die Themen ausgefallener und die Gemüter streitsüchtiger.
„Ich sag euch was. Das mit der Gleichberechtigung ist eine Farce“, tönt Kira Müller und saugt geräuschvoll mit ihrem Trinkhalm am Aperol Spritz.
„Das Patriarchat.“ Dani verdreht die Augen. „Manchmal denke ich, die Welt ist verrückt geworden. Wo man hinschaut, machtbesessene Männer, in Politik, Wirtschaft, beim Film. Sie betrachten die Welt als ihre Spielwiese, die Spielwiese ihrer Eitelkeiten, auf der sie sich austoben können. Selbstverständlich ohne Rücksicht auf Verluste. Machtgeile, skrupellose Narzissten, die über Leichen gehen.“
„Och nö, keine Politik. Den Trumpel und Konsorten ertrag ich jetzt nicht. Du hast ja recht, Dani, aber so weit musst du gar nicht gehen. Ich ärgere mich gerade grün und blau. Meine Cousine hat sich beim Wunnert beworben. Sie hat eine Absage bekommen. Und dreimal dürft ihr raten, ob sie stattdessen eine andere Frau oder einen Mann eingestellt haben.“ Kira zieht eine Schnute.
Rudi wirft sich in Position. „Vielleicht war der Kerl einfach besser geeignet.“
„Sie wurde ja nicht einmal zum Vorstellungsgespräch eingeladen“, empört sich Kira.
„Aber logisch, das ist immer Argument Numero eins. Der Mann wäre besser geeignet gewesen, es hätte nichts mit dem Geschlecht zu tun. Hahaha. Bei dem Wunnert muss es besonders schlimm zugehen.“
Ben, bisher stiller Beobachter, mischt sich ein: „Die haben sicher noch nie was von LGBTQIAPlus gehört. Damit wird es richtig kompliziert.“
„Ich auch nicht“, gesteht Rudi.
„Das ist eine Abkürzung der englischen Wörter Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual/Transgender, Queer, Intersexual, Asexual und alles, was es sonst noch gibt.“
„Das dauert in diesem Betrieb noch hundert Jahre, bis dort niemand wegen was auch immer diskriminiert wird. Gleichstellung! Alles graue Theorie!“
„Graue Theorie? Und das sagt ausgerechnet Frau Müller, ihres Zeichens erfolgreiche Journalistin mit drei Mitarbeitern unter sich, männlichen wohlgemerkt.“ Ben grinst.
„Es geht ja nicht überall so zu wie bei denen. Aber ich sag euch was. Journalistin ist ein gutes Stichwort. Ich werde diesen eingestaubten Herren mal auf den Zahn fühlen.“
„Der alte Wunnert nimmt sich sicher reichlich Zeit für die liebe Frau Müller und kehrt sein Innerstes nach außen. Mein Tipp, zieh auf alle Fälle einen kurzen Rock an“, ätzt Dani.
Kiras Augen blitzen, sie reckt kämpferisch die Faust nach oben. „Euch werde ich es zeigen, ihr Schlipsträger und Ausbeuter da oben.“
„Wow, dich hätte ich mir gut bei den Suffragetten vor über hundertzwanzig Jahren vorstellen können. Du wärst bei den Demos für das Frauenwahlrecht vorausgestürmt.“
„Ja, so ging es los. Das waren wirkliche Heldinnen, tapfer und unerschrocken. Aber ich kämpfe ohne jegliche Brutalität. Ich werde euch zeigen, was in der Arbeitswelt wirklich los ist. Und meine Waffe ist der Bleistift.“
Sie stoßen an, sie lachen, sie machen Pläne. Kira formuliert eine Wette. Ihre Clique hält dagegen.
Wochen vergehen. Mittlerweile hat Kira eine Bewerbung bei der Firma Wunnert abgegeben. Ihre guten Zeugnisse wurden beigefügt. Die Absage kommt postwendend. Momentan kein Bedarf.
Auch der zweite Teil des Plans funktioniert. Es müssen allerdings Opfer gebracht werden. Kiras rote Lockenmähne fällt der Schere zum Opfer. Teils entsetzt, teils erstaunt blicken Dani, Ben und Rudi auf ihre Freundin. Man hat sich in deren kleiner Wohnung versammelt, um letzte Vorbereitungen zu treffen. Etwas mitleidig streicht Ben über Kiras Schädel mit den kurzgeschorenen Haaren, die in einen langweiligen Braunton umgefärbt wurden.
Dani läuft um sie herum. „Das ist unglaublich. Man erkennt dich nicht wieder. Du siehst mit dieser Frisur und vollkommen ungeschminkt wirklich aus wie ein Jüngling. Und der Konfirmationsanzug meines Bruders passt doch hervorragend. Deinen Busen haben wir auch gut hingekriegt.“ Sie inspiziert den Sitz der breiten Mullbinde, die Kiras kleine Oberweite unter dem Hemd plattdrückt. „Aber so ganz ohne Bart geht es nicht.“
Rudi schaut Kira ganz genau ins Gesicht. „Hm, ist denn da gar nichts an Haarwuchs? Bei so einer Karrierefrau wie dir hätte ich gedacht, dass Reinhard Meys Liedstelle aus ‚Annabelle‘ zutrifft: …und als Zeichen deiner Emanzipation beginnt bei dir der Bartwuchs schon…“ Er will sich ausschütten vor Lachen und wird zu Strafe in die nahegelegene Drogerie geschickt, um einen gut klebenden Oberlippenbart zu kaufen.
Regina Rothengast
- Das Schreiben ist das große Hobby der Vorjahressiegerin von Erzähl mir was . Dafür fand sie aber erst nach über 30 Berufsjahren als Angestellte bei der Polizei Zeit.
- Mittlerweile ist sie 67 Jahre alt und hat drei Bücher, Gedichte für Anthologien und Kurzgeschichten für Wettbewerbe verfasst. Momentan schreibt sie an ihrem zweiten Roman.
- Sie liest selbst sehr gerne und hat nach eigenen Angaben „schon immer ein gutes Gespür für das, was um sie herum geschieht. Die besten Geschichten schreibt nämlich das Leben selbst .“
- Inspiration holt sie sich außerdem auf Walkingrunden durch die schöne Landschaft ihrer Heimat, des Main-Tauber-Kreises. Dort lebt sie in dem kleinen Dorf Kützbrunn .
Die Bewerbung läuft im zweiten Anlauf ganz anders. Die Papiere „zu vermännlichen“, Vita und Zeugnisse etwas zu verändern, ist kein Problem, die guten Noten bleiben. Niemand schöpft Verdacht, Müller ist ein Allerweltsname. In kürzester Zeit hat Kira nun eine Zusage und kann als Oliver Müller die Stelle antreten.
Kiras Wette ist gewonnen: „Ich wette, dass ich es schaffe, als Mann eine Stelle zu ergattern, für die ich als Frau abgelehnt wurde. Und das bei gleicher Eignung.“ Aber Kira will mehr. Sie will diesen Artikel schreiben. Sie will in diese Männerdomäne eindringen und das Machtgehabe anprangern.
Zwei Wochen reichen, um genügend Stoff zu sammeln. Es ist nicht nur die Frauenfeindlichkeit, die Kira mehr als einmal die Zornesröte ins Gesicht treibt. Es sind auch das überhebliche Getue, die Arroganz und die skrupellosen Geschäftsmethoden. An manchen Tagen kommt es Kira so vor, als würde sie mit dem Kopfschütteln über die Zustände nicht fertig werden. Vor allem beim Feierabendbier in der nahen Kneipe geht es richtig hoch her.
„Wissen Sie, Müller, mit den Frauen ist das so eine Sache. Bräuchte man sie nicht zum Putzen und Kochen, würde eine für das ganze Dorf reichen.“ Brüller, Schenkelklopfer, Herrn Müller wird schlecht.
Am nächsten Tag hat Kira genug. Sie betritt das Büro des Chefs, reißt sich den Fake-Bart von der Oberlippe und sagt triumphierend: „Das war‘s. Lesen Sie in den nächsten Tagen meinen Artikel im Stadtanzeiger. Kira Müller mein werter Name.“ Beim Hinausgehen dreht sie sich noch einmal um und winkt. Herr Wunnert sitzt mit offenem Mund im Sessel und starrt ihr hinterher.
Kira schaut stolz auf ihren Bericht: „Oliver kann und Kira kann nicht? – Die antiquierten Machtgefüge in der Firma Wunnert – Ein Tatsachenbericht“. Sie hat sich so richtig ausgetobt. Der Artikel ist bissig und schonungslos.
Tobi streckt den Kopf zur Türe herein: „Ein Herr von Arnau möchte dich sprechen.“
Mit großen Schritten eilt der Angekündigte herein, eine tadellose Erscheinung im Maßanzug, auf den Lippen ein süffisantes Grinsen. Er knallt der erstaunten Kira ein Schriftstück auf den Schreibtisch. „Ich bin einer der Rechtsbeistände von Wunnert. Ihr Artikel darf nicht gedruckt werden. Klopfen Sie Ihre Hirngespinste in die Tonne und lassen Sie sie da. Und ich warne Sie. Legen Sie sich nicht mit uns an. Wir sitzen am längeren Hebel, Sie kleine Betrügerin. Seien Sie froh, wenn die Firma Sie nicht wegen Urkundenfälschung anzeigt.“
Kira ballt ihre Faust unterm Schreibtisch. Ihr Blick fällt auf den Spruch, der an der Wand gegenüber hängt: „Zensur ist nie ein Zeichen von Stärke, sondern immer nur von Macht.“
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