Erzähl mir was 2025 - Teil 9

„MM“-Schreibwettbewerb „Erzähl mir was“: Missionarsstellung in Fulda

In Lothar Rosenbergs Beitrag zu „Macht und Mensch“ geht es um Bonifatius und die Kirche, um hierarchische Strukturen und weibliche Vornamen.

Von 
Lothar Rosenberg
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Als Schattenriss zeichnet sich die Bonifatiusstatue im nordhessischen Fritzlar ab. Dort soll der hünenhafte Apostel der Deutschen eine Donareiche gefällt haben, als Zeichen der Überlegenheit des Christentums über heidnische Kulte. © picture alliance / dpa

Zum Glück habe ich drei Töchter. So fällt mir gelegentlich was auf – obwohl ich nur ein Mann bin. Normalerweise checken Männer zwischenmenschlich nichts. Dennoch wollen sie die Welt erklären; ich auch: Mein Vater war Landwirt. Also weiß ich, was Pflüge sind und welche Spuren die Landschaft prägen. Doch ich wuchs im Matriarchat auf; meine Mutter lehrte mich kritisches Prüfen und Gerechtigkeitssinn. Dauernd finde ich Spuren geschlechtstypischen Denkens und Handelns. Herrscher wie Putin oder Trump strafe ich durch konsequentes Ignorieren. Ich bevorzuge die feine, geduldige historische Klinge – Spurensuche über Jahrhunderte. Momentan kratze ich verzweifelt jeden aufheiternden Resthumor zusammen.

Im August 2005 fuhr ich per Fahrrad Richtung Fulda. An einer kleinen Kapelle sah ich eine gebeugte alte Frau. Auf ihren Knien hockend bearbeitete sie die Steinstufen mit Putztuch und Schrubber. Wie Sisyphos rackerte sie. Es nützte wenig. Sie hatte für die Kirche zu tun. Hatte sie auch was zu sagen?

Zeitgleich war Weltjugendtag in Köln mit Papst Benedikt, Motto: „Wir sind gekommen, um ihn anzubeten.“ Ich fragte mich: „Was haben Hierarchien in der Kirche zu suchen?“

Lothar Rosenberg

Geboren am 18. November 1950 in Schleswig-Holstein als Kind heimatvertriebener Eltern aus dem Memelgebiet und Frankfurt/Oder ist Lothar Rosenberg ab 1954 in Weißenstadt in Oberfranken aufgewachsen.

Nach Abitur und Zivildienst studierte er in Würzburg Psychologie mit den Nebenfächern Philosophie und Volkskunde . Rosenbergs Diplom-Arbeit über Sozialutopien wurde „sehr gut“ bewertet.

Von 1978 bis 1982 arbeitete er in der Psychologischen Beratungsstelle in Ravensburg . Später zog es ihn in ähnliche Positionen nach Clausthal und Bad Mergentheim. Dort war er die letzte zwölf Jahre bis zum Ruhestand 2014 Leiter der Beratungsstelle. Danach folgten sechs Jahre in der freiberuflichen Supervision.

Seit 1997 ist Rosenberg Autor und Herausgeber von Fachbüchern und Belletristi k . Im Buchvertrieb www.rosenberg-fachbuecher.de sind bisher 14 Titel und 26 Auflagen erhältlich.

Über seine Motivation zum Schreiben sagt er: „Seit meiner Jugend in den 60er Jahren schreibe ich gern. Ich nehme es wie konzentrierte Meditation wahr. Da bin ich ,bei mir‘. Geschichtliche Zusammenhänge und Abfolgen faszinieren mich und kritische Blicke auf kulturelle und politische Entwicklungen. Ahnenforschung passt gut dazu. Kurzgeschichten fordern einen pointierten und lebendigen Schreibstil.“

Vor Fulda dachte ich an Bonifatius, den Missionar der Deutschen. Mit einer guten Axt hatte er die germanische Donareiche gefällt; mutige Provokation und geniales Timing einer PR-Aktion! Und siehe: Die germanischen Gottheiten taten nichts. Kein wütender Blitz knallte vom Himmel, um den Frevel zu bestrafen. Wenn das kein Beweis ist für den besseren christlichen Glauben!? Und eine erfolgreiche brachiale männliche Logik von diesem schlauen Kerl. Ein Held, ein Held! Die Aktion brachte ihm schlagartig Respekt. Missionierung in Thüringen und Hessen, Aufbau kirchlicher Strukturen, das alles lief super. Nur an der Nordsee oben ging was schief. Die Westfriesen wollten nicht missioniert werden! Im Juni 754 haben sie Bonifatius bei Dokkum ermordet, denn seine fränkischen Schutzritter wurden als feindliche Besatzer betrachtet. Im Dom von Fulda ist Bonifatius beigesetzt worden als anerkannter Organisator einer mächtig werdenden Kirche.

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Ich radle am Ortsschild „Fulda“ vorbei, meine Gedanken kreisen jetzt wie Fahrradräder: „Ich bin gegen aggressives Missionieren. Die Christen wurden erst verfolgt, dann aber zur römischen Staatsreligion. 200 Jahre danach wurden auch die Frankenherrscher christlich. Die Macht von Staat und Kirche verbandelte sich; viel wurde vereinheitlicht mit Verwaltungseffizienz. Karl der Große führte ab 772 brutale Missionskriege gegen die heidnischen Sachsen. Und die Kreuzzüge ab dem 11. Jahrhundert lebten von primitiven Denkmustern wie: Wir sind gut – die Anderen sind böse! Es gibt nur den einen richtigen Glauben! Unser Revier – Euer Revier!“

Mein Fazit: Menschen verhalten sich oft wie Hunderudel oder Mafiosi. Und spezielle Männer gefallen sich als testosterongesättigte Platzhirsche mit der brutalen Logik: „Alle Weibchen im Revier gehören mir – Rivalen raus aus meinem Haus!“

Dann schaue ich mir die Grabstätte des Bonifatius im Fuldaer Dom an: oben ein breiter Rahmen schwarzen Marmors wie männliches Aftershave. Unten in Stein gehauen ein Sarg mit einem vitalen Bonifatius, bärtig, breitschultrig und – ja – standesgemäß putzmunter. Den Deckel hat er schon aufgestemmt.

„Was der alles kann; er ist nicht tot zu kriegen! Er kriecht aus dem Sarg, er will unsterblich sein und ewig jung. Das ist egozentrisch, egomanisch. Jetzt reicht’s aber! Das Ganze hier im Fuldaer Dom ist eine bunkerähnliche machtverherrlichende Missionarsstellung – aus der Zeit gefallen, voll von gestern!“

Eine Heidenangst packt mich. Mir wird eiskalt ums Herz. Schnell zum Ausgang! Draußen an der Sonne wird mir wieder warm. Ich atme tief durch. Jetzt will ich einfach weltlich essen in einer dieser neuen Bäckereien mit Café. Die Bedienungen tragen leichte, lange Gewänder, die mich an den Habit erinnern, die Kleidung von Nonnen. Ab und zu rufen sie sich was zu mit Vornamen wie: Hildegard, Marie und Angela. Was ihre Klamotten betrifft, sag ich mal ehrlich so: „Je stärker Frauen verhüllt sind, desto eher regen sie meine Fantasie an. Und umgekehrt auch: Je weniger sie verhüllt sind, desto mehr regen sie noch weitergehende Fantasien an. Zu Details äußere ich mich nicht öffentlich; Nachfragen sinnlos!“

Eine schnellfüßige, gemäßigt verhüllte Bedienung schaut mich superfreundlich fragend an wegen meiner Bestellung. Sie hat wunderbar lebendige, dunkelbraune Augen. Mir wird total schwindlig – der Loreleyeffekt! Wie in einer Wolke schwebend sehe ich sie, und ich meine, sie heißt Else. Ich bin völlig verwirrt. Ich weiß nicht mehr wie das Menü heißt, dieses opulente Brötchen mit Käse, Salat und Tomaten. Ich höre mich nur noch sagen: „Und dazu bitte Latte Macchiato.“

Ich bekomme noch mit, dass sie sich umdreht und dann weggeht. Das tut richtig weh. Ich fühle mich wie ein schlapper Verlierer.

Lothar Rosenberg aus Lauda. © Rosenberg

Die Gäste im Raum wirken auf mich gesichtslos. Überall Völlerei und übergewichtige Menschen, die mehr kaufen als sie brauchen, alles weit entfernt von urchristlichen Ideen.

Resigniert fällt mein Blick auf die Speisekarte: Dommahlzeit, Bischofsmahlzeit und Mönchsfrühstück. Flugs lese ich alles. Die Dommahlzeit konkurrenzlos üppig; Bischofsmahlzeit und Mönchsfrühstück unterscheiden sich weniger.

Das ist eine Herausforderung – Schnellcheck! Rasch kapiere und liste ich die im Kleingedruckten versteckten Unterschiede zwischen Bischof und Mönch:

1. Der Bischof kriegt Eier, worauf der Mönch bis heute wartet.

2. Der Bischof bekommt im Gegensatz zum Mönch eine „zarte Else“ angeboten.

„Hm? Wie? Was ist das denn?“

Alarm. Schlagartig sehe ich vor meinem männlichen Auge die smarte Bedienung von vorhin.

„Die zarte Else im Angebot? Geht gar nicht!“

Trotz all meiner Loyalität zum diakonischen Teil der Kirche denke ich empört: „Wieso dürfen Bischöfe eine zarte Else genießen, während die Mönche eierlos darben? Oder verzichten Mönche freiwillig, um die Bischöfe abstinenzmäßig zu übertreffen? Den Bischöfen würde ich Vorwürfe machen, wenn sie was anderes leben als sie predigen.“

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was rein essensmäßig eine zarte Else ist. Eine „fromme Helene“ passt wohl eher zur Delikatessenkarte eines Bischofs. Aber vielleicht steht ihm der Sinn oder sonst was eher nach einer nichtfrommen zarten Else. Hieße sie Elise könnte man an Nürnberger Lebkuchen denken.

Hier verrät sich der patriarchal definierte lustvolle Dreiklang von Wein, Weib und Gesang. Else wird zum Verzehr angeboten; Else als Objekt männlicher Begierde; Else als unschuldiges Opfer der Menschenfresserei. „Kannibalismusrelikte in Fulda!“, wird BILD schon morgen titeln. Mein argumentativer Eifer dreht hohl.

Ich zahle noch ehe das Bestellte serviert wird. Die Bedienung schaut entgeistert; ihr Gesicht jetzt bleich wie eine Hostie. Fluchtartig laufe ich raus Richtung Fahrrad. Nichts habe ich gegessen. Ich will nur weg. Ich vergaß zu erkunden, was eine zarte Else in des Bäckers Definition ist. Aber egal, letztlich ist Else ein weibliches Wesen aus Fleisch und Blut!

So fliehe ich aus Fulda, dem Ort mit der als Dom getarnten paramilitärischen Missionarsstellung und der verwerflichen Verfügbarkeitsideologie bezogen auf Frauen! Meine Gedankenwirbel sortieren sich während des Radfahrens: „Es ist skandalös, wenn ein Bischof so ein feines Wesen verputzen darf. Ich wünsche ihm die wilde Hilde an den Hals und nachher die flotte Lotte! Oder ist Else ihm zu gönnen?

Warum rege ich mich eigentlich auf? Konkurrenz? Neid? Als alternder Mann hätte ich es vielleicht auch gerne so.

Also ich vertrete die Menschenrechte: „Wenn die zarte Else selbst bestimmen darf, wer wen verputzt – wenn alles einvernehmlich abläuft – kein Problem!“

Erzähl mir was, 6. Auflage

  • Die Schlussrunde : Unter den rund 50 Geschichten, die Leserinnen und Leser zum Thema „Macht und Mensch“ eingereicht hatten, hat die Jury dieser Redaktion nun die ihrer Meinung nach zwölf besten für das Finale bestimmt. Sie finden sich in unserem Themenschwerpunkt "Erzähl mir was".
  • Die Onlineabstimmung: Unsere Leserinnen und Leser können dann vom 27. August bis 5. September 2025 online abstimmen , wer die ersten sechs Plätze des Wettbewerbs belegt.
  • Abstimmung unter: mannheimermorgen.de/erzaehlmirwas

Außerhalb Fuldas nähert sich die waldige Landschaft der Straße. Ich fühle mich alleine wohl und beruhige mich.

„Else wird meine Gedanken teilen. Es lebe ihre Selbstbestimmung!“

Als ich durch das nächste Dorf radle, grüßt mich eine hübsche junge Frau heftig. Eigenartigerweise sieht sie mir nicht direkt in die Augen, was ich bis heute bedauere, sondern sie peilt haarscharf hinter mir vorbei.

„Hej Else, mach’s gut“, höre ich sie rufen. Ich wundere mich und habe das sichere bis gruselige Gefühl, nicht alleine auf meinem Fahrrad zu sein. Stellen Sie sich vor, ich wäre Mönch oder Bischof. Jetzt frag` ich Sie: „Stur nach vorn gucken? Oder Nachschauen, wer da hinten auf meinem Rad sitzt?“

Selbsttor!

Zu kurz gedacht – ob die zarte Else wie eine Jugendliche bei mir, dem großen männlichen Zampano, mitfahren täte?!?

Wahrscheinlicher ist doch: Die erwachsene Else fährt knapp hinter mir auf ihrem eigenen sportiven Fahrrad, und außerdem setzt sie bereits zum Überholen an!

Also, alles auf Null. Jetzt geht sie erst richtig los, die ganz eigene Geschichte der zarten und harten Else. Mann-oh-Mann: Ich bin nicht befugt, darüber zu schreiben. Das kann sie nämlich selber!

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