I. Der Alte: Fragen
Mannheim, Pflegeapartment 277895-677, 09. September 2048
Liebe Johanna,
Du hast mich gefragt, warum wir so dumm geworden sind, so hohl und taub. Und ich muss Dir leider antworten: Ich weiß es nicht. Das ist vielleicht das Schlimmste: Es nicht zu wissen. Wann begann all das? Und wann wird es wieder enden? Wird es überhaupt einmal vorbei sein?
Ich weiß es nicht. Und ich habe nicht mehr viel Zeit. Kommende Generationen werden die Antwort kennen. Und geben. Ja, vor allem das: Sie werden sie geben. Denn das ist die Antwort: Wir sind nicht so geworden. Nein. Wir haben uns dazu gemacht. Oder nichts dagegen unternommen.
Wenn ich noch einmal jung wäre, dann ja, dann … mit dem Wissen von heute. Ich würde in der Zeit zurückreisen. 2025. Alle warnen. Vor dem, was da kommt. Vor dem, was da am Horizont aufzieht. Vor diesem Sturm. Der sich als ein laues Lüftlein gebiert. Um in unbeobachteten Momenten die Fesseln abzustreifen. Erst ein wenig nur, fast fragend. Dann immer häufiger und immer gewaltiger. Bis .. ja, bis er so mächtig wird, dass er alle mit sich reißt.
Wie geht es eigentlich Dir heute? In letzter Zeit wirkst Du etwas – nun ja – zurückhaltend.
Dein Sebastian
Erzähl mir was, 6. Auflage
- Die Schlussrunde : Unter den rund 50 Geschichten, die Leserinnen und Leser zum Thema „Macht und Mensch“ eingereicht hatten, hat die Jury dieser Redaktion nun die ihrer Meinung nach zwölf besten für das Finale bestimmt. Sie finden sich in unserem Themenschwerpunkt "Erzähl mir was".
- Die Onlineabstimmung: Unsere Leserinnen und Leser können dann vom 27. August bis 5. September 2025 online abstimmen , wer die ersten sechs Plätze des Wettbewerbs belegt.
- Abstimmung unter: mannheimermorgen.de/erzaehlmirwas
II. Der Sekretär: Arbeiten
15.IX.2048
Kassey kam immer um die Mittagszeit. Und er ärgerte sich darüber. So sehr, dass er sie anblaffte: „Kassey, wie oft habe ich dir gesagt …“ Später tat es ihm Leid. Wenigstens ein bisschen. Sie war eigentlich das, was man früher eine „gute Seele“ nannte. Einmal im Monat kam sie und säuberte das Haus und seine Umgebung von dem, was selbst hoch entwickelte Reinigungsroboter nicht schafften. Bevor er das Haus verließ, legte er ihr immer eine Tafel Schokolade hin, die von der guten Sorte, mit denen nur Menschen wie er versorgt wurden. Kassey war immer freundlich. Ausgesucht höflich geradezu. Etwas übertrieben, fand er. Vielleicht wegen der Sorge um ihre Arbeitserlaubnis? Er wusste, dass sie ihre Familie unterstützte.
Heute musste er sich beeilen. Der Minister hatte eine Sondersitzung einberufen. Er hasste diese ewigen – wie er und Jonathan sie insgeheim nannten – „Laberrunden“. Am Ende machte er doch, was er wollte, er hatte mit seinen KI-Beratern schließlich schon alles abgestimmt. Jonathan – Referatsleiter IV – und er – Referatsleiter V – fragten sich gelegentlich, wie lange sie ihre Posten wohl behalten würden. Aber noch durften Menschen in staatlichen Funktionen nicht ersetzt werden.
Sein Wagen fuhr rasant. Erst kürzlich hatte er das Modell erhalten, das ihm nach seiner Beförderung zum Staatssekretär zustand. Die KI war nun nicht mehr nur in der Lage, ihn auf dem schnellsten Weg zum Ministerium zu fahren, ihm dabei ein perfektes Unterhaltungsprogramm und Annehmlichkeiten wie Massage zu ermöglichen, sie konnte nun allen Ernstes selbst die Scheiße in seinem Enddarm scannen und analysieren. Bei der Lieferung des Fahrzeugs hatte der zuständige Mitarbeiter des Fuhrparks regelrecht davon geschwärmt. Er hatte seine Stimme noch im Ohr, eigentlich die eines Bürokraten, die sich aber bei der Erklärung genau dieser Funktion in eine für ihre Verhältnisse fast schon schwärmerische Euphorie verwandelte: Jede Faser, bis hin zu den Gallefarbstoffen. „Erkennt etwaige Dysbalancen in Ihrer Ernährung in Sekunden und stellt selbstredend schwere Krankheiten in einem sehr frühen Stadium fest.“ „Heilige Scheiße“, hatte er geantwortet, und so waren sie lachend auseinandergegangen.
Es war schon spät am Abend. Er blickte aus dem Fenster. Er liebte und bewunderte immer wieder aufs Neue diese Klarheit, diese Sauberkeit des neuen Berlin. Die Straßen besenrein, gesäumt von gebürsteten Edelstahlplanken, hinter denen blitzsaubere Bürgersteige entlangführten, deren Beleuchtung aus dem Boden heraus diskret die abendliche Szenerie erhellte. Kaum Menschen auf den Straßen, seit knapp einer Stunde herrschte die tägliche Ausgangssperre. Das neu errichtete, majestätische Kanzleramt erstrahlte im Schein der Laser.
Spät in der Nacht kehrte er nach Hause zurück. Aber es gab noch etwas zu erledigen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch. Diese eine Nachricht an seine Untergebenen musste er noch signieren und versenden. Morgen in aller Frühe sollte es beginnen. Nachdem er das erledigt hatte, legte er sich ins Bett. Herrlich weich, diese neue Bettwäsche. Er konnte – wie immer – ruhig schlafen.
III: Der Alte: Erinnerungen
Mannheim, Pflegeapartment 277895-677, 22. September 2048
Liebe Johanna,
ich erinnerte mich gerade an meine Kindheit, vor einer so langen Zeit, dass es mir so vorkommt, als dächte ich an einen anderen, mir eigentlich fremden Menschen. Wochen, Monate und Jahre in dem Alter kommen einem ja fast so vor, als endeten sie nie – aneinandergereiht wie unzählige Perlen an einer Schnur, und jede anders: Manche farbenfroh, einige mit winzigen oder mächtigen Dornen, wieder andere verspielt. Wie wertvoll jene Zeit doch war, Stunde um Stunde, Perle um Perle. Und die ganze Kette? Sie schmiegt sich an unseren Hals, manch anderem schnürt sie auch die Luft zum Atmen und wieder andere bemerken sie später gar nicht mehr.
Ob die Kinder heutzutage glücklich sind? Ich sah neulich eins am Fenster meines Zimmers vorübergehen. Ein Junge, vielleicht neun oder zehn Jahre alt. Sein Blick wirkte sehr entschlossen. Er trug einen feinen Anzug und eine lederne Tasche. Darauf stand ein Wort, aber ich konnte es nicht lesen. Daneben war ein Symbol angebracht. Es erinnerte mich an einen Blitz.
Für heute, liebe Johanna, verabschiede ich mich.
Nur eins noch: Bist du denn noch da? Ich höre nichts mehr von dir.
Dein Sebastian
Helge Bewernitz
Helge Bewernitz, Jahrgang 1973, hat nach seinem Studienabschluss in Münster/Westf. in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit, Compliance und Bildung gearbeitet. Es gibt von ihm diverse Veröffentlichungen in Anthologien. Nach einem Auslandsaufenthalt in Prag 2019-2021 lebt er wieder in seiner Wahlheimat Berlin, an der der der gebürtige Hamburger das Bunte und Laute ebenso schätzt wie ausgedehnte Spaziergänge im Grunewald.
Warum schreibt er? Die Antwort: „Wie werden wir in Zukunft zusammenleben? Welche heutigen Entwicklungen tragen bereits das Kommende in sich? Ich möchte versuchen, Antworten auf diese Fragen zu geben, darzustellen und fühlbar werden zu lassen: So könnte es sein, dieses Morgen.“
IV. Der Sekretär: Erinnerungen
Berlin, 26.IX.2048
Als er nächsten Abend nach Hause kam, genehmigte er sich einen Cognac und ließ sich im Wohnzimmer auf dem Sessel vor den Panoramafenstern nieder. Von hier aus hatte er einen herrlichen Blick über Berlin. Er schloss die Augen. „DIE Musik!“ Aus unsichtbaren Boxen erklang jene Musik, die Raja und er zu „unserem Lied“ erklärt hatten. Wie lange war das jetzt her? 18 Jahre? Nein, schon länger. „… unser Lied … ja, komm, lass uns tanzen… zwei Körper… in deine wunderschönen Augen sehen … gemeinsam … für immer.“
Nach den letzten Takten öffnete er seine Augen. „Wie das Erwachen aus einem Traum“, dachte er. Aus einem jener Träume, aus denen man nie erwachen möchte. Und die doch enden. Und wenn man dann erwacht, ist es so, als habe man etwas sehr Wertvolles verloren. Er dachte kurz an sich, wie er damals war. Jung. Etwas naiv. Und geliebt.
Er erhob sich, trank noch einen Cognac und legte sich dann schlafen.
V. Der Alte: Kein Wiedersehen
Mannheim, Pflegeapartment 277895-677, 29. September 2048
Liebe Johanna,
heute Morgen habe ich eine schlechte Nachricht erhalten. Ich muss gehen, schon bald. Darf nicht bleiben. Der Platz wird benötigt. Wie schade. Gern wäre ich noch geblieben. Den Himmel sehen, vorbeiziehende Wolken, Vögel, vom Wind getragen und Blätter, vom Wind verweht. Doch vorbei. Das ist der Lauf der heutigen Zeit. Es ist auch niemand hier, von dem ich mich verabschieden müsste. Die Pflegeroboter verrichten ihren Dienst präzise, es kümmert sie nicht, ob ich da bin oder nicht. Und sonst ist einfach niemand hier. Niemand, verstehst du? Ich habe nur dich, aber selbst du bist ja nicht da. Johanna … selbst du bist nicht da! Warum bist du nicht DA?! Johanna, warum.
Nun, so ist es. Ja, so ist es. Ich sage dir nun Adieu.
Adieu.
Sebastian
Die Sonne scheint. Der Sommer ist – wie üblich kurz vor Beginn des Oktobers – heiß und trocken. Die Menschen, große und kleine, alte und junge, haben sich schon lange daran gewöhnt. Sie spielen, genießen ein Eis, plaudern und lachen. Die Nachrichtendisplays ihrer smarten Brillen haben sie stumm geschaltet.
Die Nachrichten:
Heute hat der Gesundheitsminister eine weitere Sparmaßnahme bekanntgegeben, die – so der Minister – „leider unvermeidlich“ sei: Menschen über 70 Jahre ohne eine private Altersvorsorge sowie sonstige Menschen, die nicht zum allgemeinen Wohlstand und Fortschritt der Gesellschaft beitragen, können ab sofort nicht mehr in staatlichen Krankenhäusern, Pflegeheimen und sonstigen Einrichtungen betreut werden. Auch der – so der Minister weiter – „bisher sehr großzügig gewährte Zugang“ zu digitalen Dienstleistungen wie etwa dem umfangreichen digitalen Gesundheitsservice „Johanna“ inklusive Diagnostik, Behandlungsplänen und Companion-KI sei nun für diese Personengruppen nicht mehr möglich. Die Aushäusung der Betroffenen habe bereits begonnen. Sofern sie nicht von Angehörigen betreut werden können, stehen außerhalb der großen Metropolen abgegrenzte Gebiete zur Aufnahme zur Verfügung. Dort werden sie – wie in dem kürzlich vom Bundestag beschlossenen Kostendämpfungsgesetz festgelegt – im Rahmen des finanziell Möglichen auf Basisniveau betreut. Der Minister wies in seinem Statement nochmals ausdrücklich darauf hin, dass das Gesetz vom Bundesverfassungsgericht als mit dem Grundgesetz vereinbar eingestuft wurde, nachdem dieses einschlägig geändert worden war.
Und nun – Musik.
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