„Zweifel sind erlaubt“ – so war unser „Spitz-Kick“ vom Samstag, 1. Oktober, überschrieben. Darin haben wir teils scharf sarkastisch und kommentierend die neuen Spielregeln bei den „kleinsten Fußball-Jugenden“ hinterfragt – und damit offene Türen eingerannt. Diese Kolumne war zehn Tage lang einer der meist geklickten Artikel bei uns im fnweb; auf Facebook wurde er emsig kommentiert, und mittlerweile wurde er in diversen Gruppen von Jugend-Trainern und -Mannschaften geteilt.
Es ist ein großer Fehler zu glauben, man müsse Kinder trainieren wie kleine Senioren."
Allerdings gab es auch Kritik – vor allem von Reinhold Thiel, einem lizenzierten Jugendtrainer aus Pülfringen. „Alles zu oberflächlich und nicht hinterfragt“, begründete er seinen Unmut. Deshalb haben wir ihn zu einem großen Interview eingeladen, in dem er die Veränderungen im Jugend-Fußball aus fachlicher Sicht erläutert. Hierbei bezog er auch zu kritischen Fragen dezidiert Stellung.
Herr Thiel, für unseren „Spitz-Kick“ vom 1. Oktober über die Änderungen im Jugendfußball haben wir viele positive Reaktionen erhalten. Sie haben sich allerdings über den Inhalt geärgert. Warum?
Reinhold Thiel: Weil mir das Thema zu oberflächlich behandelt wurde und inhaltlich überhaupt nicht in die Tiefe ging.
Können Sie das an zwei, drei Beispielen konkretisieren?
Thiel: Zunächst einmal stand da, dass Fußball überall gleich sein soll. Diese Ansicht teile ich gar nicht. Kinderfußball sollte nie gleich mit Seniorenfußball sein. Es ist ein großer Fehler zu glauben, man müsse Kinder trainieren wie kleine Senioren. Bei Kindern muss ich als Trainer und Betreuer auf ganz andere Dinge achten. Da gilt es beispielsweise, die Kraftentwicklung oder eben nicht vorhandene Kraftentwicklung im Auge zu behalten. Und da kommen wir schon zu einem Ihrer genannten Beispiele: Eckbälle. Ist es wirklich sinnvoll, dass E-Jugendspieler schon Ecken schießen und versuchen, den Ball so weit wie möglich vors Tor zu schießen? Am Ende wird immer der die Ecken treten, der den Ball am weitesten schießen kann. Ob das dann sinnvoll ist und der Entwicklung dient, lasse ich an dieser Stelle mal dahingestellt.
Ist es dann aber sinnvoll, das Eckenschießen ganz „abzuschaffen“ und stattdessen das Eindribbeln vorzugeben? Wird damit auf der anderen Seite nicht die Fähigkeit, eine Ecke scharf und präzise vors Tor zu bringen, eingeschränkt? Genau solche Spieler brauchen dann später doch die Seniorenmannschaften.
Thiel: Die Jungs, die den Ball weit schießen können, behalten diese Fähigkeit ja bei. Die verlieren sie durchs Eindribbeln nicht. Aber andererseits steht dann der kleine Spieler vielleicht auch mal beim Eckball und entscheidet, wie er das Spiel fortsetzt. Und diese Entscheidungsfindungen auf dem Platz sind für die jungen Spieler in ihrer Entwicklung elementar. Der Kleine sieht vielleicht, dass der Gegner noch völlig unsortiert steht, legt den Ball hin und dribbelt schnell ein. Das durfte er früher nicht. Es musste gewartet werden, bis der größte Spieler von hinten vorgerannt kam und die Ecke reingeschossen hat.
Also ist „schnelle Entscheidungsfindung“ ein Hintergedanke bei diesen Neuerungen. Welche Ideen, vielleicht auch aus sportwissenschaftlicher Sicht, stecken noch dahinter?
Thiel: Über allem steht folgende Idee: In kleineren Spielfeldern sollen die Kids mehr Ballaktionen haben. Beispiel: Ein E-Jugendspiel quer über den Platz, sieben gegen sieben. Jetzt zählen Sie mal, wie viele Ballaktionen ein Spieler hat – wenn er nicht gerade der Überflieger ist. Das sind unterm Strich viel zu wenig, um sich zu entwickeln, weil das Spielfeld viel zu groß ist. Daraus folgt: Auf kleineren Feldern mit weniger Spielern haben die Kinder viel mehr Ballaktionen und damit auch mehr Entscheidungen zu treffen.
Aber solche Überlegungen wurden doch bisher stets im Training umgesetzt. Seit Jahrzehnten gibt es Spielformen „drei gegen drei auf zwei, auf vier Tore“, „vier gegen vier ohne Tore“ und so weiter. Warum müssen solche Trainingsformen jetzt ins Kinderspiel transportiert werden? Damit wird doch das Spiel an sich verfälscht. Die Kinder spielen einen Fußball, den sie aus dem Fernsehen gar nicht kennen.
Thiel: Der Missmut über diese Änderungen hängt sich landauf, landab zu sehr an diesem „drei gegen drei“ auf. Es spricht nichts dagegen, „fünf gegen fünf auf E-Jugendtore“ zu spielen. Aber das Spielfeld sollte klein gehalten werden. Man nimmt den Kids den Fußball doch nicht, den sie im Fernsehen sehen, sondern bietet ihnen beispielsweise mit kleineren Feldern Hilfestellungen, um Fußball kindgerechter zu machen. Und es kann doch kein Fehler sein, wenn sich bei einem Spiel auf vier Tore ein Kind entscheiden muss, auf welches es jetzt spielen soll, weil da oder dort der Torerfolg wahrscheinlicher ist. Das Gleiche gilt fürs Verteidigen.
Im deutschen Fußball reifte zuletzt die Erkenntnis, dass „uns“ die Individualisten fehlen, weil in der Ausbildung zu lange der mannschaftstaktische Aspekt in den Vordergrund gerückt wurde. Es fehlen also Spieler, die Situationen im Eins-gegen-Eins auflösen können. Liegen dieser Erkenntnis auch die Veränderungen im Kinderbereich zugrunde?
Thiel: Ja. Definitiv. Wir haben Passmaschinen entwickelt, dabei sollen die Kinder doch frei kicken können. Und hier spielt auch die Position des Trainers mit hinein. Er soll im Kinderbereich eigentlich nur Organisator und Begleiter sein und nicht einer, der von draußen mit seinen dauernden Kommandos den Spielerinnen und Spielern die Entscheidungen abnimmt. Auf dem Bolzplatz ist es doch genauso: Da ist auch kein Elternteil dabei und sagt: „Wir machen das jetzt so und so.“ Vielmehr machen die Kinder ihre Regeln selbst und kicken einfach ganz ohne Zwang. Der Input von außen schränkt die Aufmerksamkeit und damit auch die Entscheidungsfähigkeit ein. Kinder haben beispielsweise noch kein ausgeprägtes räumliches Sehen. Wenn ich jetzt dauernd von außen sage, wo es hinpassen und hinlaufen soll, wird diese Entwicklung eingeschränkt. Wir alle kennen doch den häufig von außen reingerufenen Satz: „Hey, hast du den freien Mann nicht gesehen?“ Das kommt auch da her.
Was soll, was darf denn ein Trainer dann überhaupt noch coachen?
Thiel: Bei den Kindern so wenig wie möglich.
Wo ist dann die Schwelle, ab der die Kinder dann „richtig“ Fußball spielen sollen?
Thiel: In dem Moment, wo sie Jugendliche werden und körperlich ausgeglichener sind. Das heißt: An der Schwelle von der C- zur B-Jugend.
Kann dieser Sprung vom „neuen Kinderfußball, vom Bolzplatz-Fußball“ hin zum „richtigen Jugendfußball“ nicht unglaublich schwierig werden, weil gewisse Dinge für den Nachwuchs dann ganz neu sind?
Thiel: Das glaube ich nicht. Die Kinder spielen ja dann schon bestenfalls seit Jahren Fußball. Die Grundlagen sind doch allesamt da.
Wie genau entwickelt ein Kind Siegermentalität in den „unteren Jugenden“?
Thiel: Indem man oft die Möglichkeit für Torabschlüsse hat. Bei solchen Spielformen soll im besten Fall jedes Kind einmal die Möglichkeit haben, aufs Tor zu schießen. Siegermentalität wird auch entwickelt, wenn man mutig im Dribbling ist. Das wird einem genommen, wenn man sagt: „Spiel nach dem dritten Kontakt den Ball ab!“
Ist das alles nicht einfach nur eine Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel? Die Kinder gehen nicht mehr auf den Bolzplatz, also tun wir so, als befänden sie sich während des Spiels auf einem solchen?
Thiel (lacht): Nein, das glaube ich nicht. Man möchte nicht den Fußball, der vielleicht in der Freizeit fehlt, nun so ersetzen. Man möchte vielmehr diese Bolzplatzmentalität reinbekommen, und damit meine ich einfach: wenig Regeln, viel Freiheit, zocken auf dem Platz und nicht an der Konsole. Es geht um die Bolzplatzmentalität und nicht um einen Bolzplatzersatz.
Kommt durch diese Umstellung die positionsspezifische Ausbildung nicht zu kurz?
Thiel: Die Frage ist, ob ich die positionsspezifische Ausbildung schon so früh brauche.
Aber später brauche ich sie auf jeden Fall.
Thiel: Ja, klar. Aber ergibt es nicht viel mehr Sinn, wenn die Kinder so lange wie möglich auf so vielen Positionen wie möglich Erfahrungen sammeln und nicht schon in der E-Jugend festgelegt wird, dass einer Verteidiger wird. Bei vielen Kindern kommen gewisse Entwicklungen erst später.
Alle Ihre Erklärungen klingen in hohem Maße einleuchtend. Doch „bei uns auf dem Land“ versteht diese Neuerungen kaum jemand. Das Unverständnis unter den Jugendtrainern dominiert. Was ist da schief gelaufen?
Thiel: Solch ein Gespräch, das wir hier mit diesem Interview führen, müsste vor 20, 30 Jugendtrainern stattfinden. Es fehlt an Kommunikation, es fehlt an Erklärungen. Deshalb regiert jetzt die Meinung: „Die da oben haben sich mal wieder etwas ausgedacht.“ Vielleicht muss ein Team von der Sportschule mal pro aktiv übers Land zu den Vereinen fahren und die Hintergründe erklären.
Ich habe zwei Kinder, die auch kicken, und war deshalb vielleicht auch offener für Veränderungen und andere Meinungen."
Wer hat Sie denn von den Neuerungen überzeugt?
Thiel: Letztlich ich mich selber. Aber das war auch bei mir ein Prozess. Wenn ich heute reflektiere, wie ich früher trainiert habe, wird mir ganz schlecht. Aber ich habe zwei Kinder, die auch kicken, und war deshalb vielleicht auch offener für Veränderungen und andere Meinungen.
Muss man gerade die ehemaligen Aktiven, die 20 Jahre Fußball gespielt haben und heute Jugendtrainer sind, von den Neuerungen überzeugen? Die kennen nur „den alten Fußball“?
Thiel: Diese Scheuklappen sind da, und es ist schwer, diese Mauern des Unverständnisses zu durchbrechen. Viele Trainer kommen in die DFB-Stützpunkte und schauen sich neue Trainingsformen an, gehen dann aber wieder in den Verein und trainieren wie vorher. Aber klar: Der Fußball lebt von diesen „Papa-Trainern“. Ich bleibe dabei: DFB und Verbände müssten noch mehr in die Vereine gehen und Hilfestellung geben.
Das heißt im Umkehrschluss: Betreuer, die nie Fußball gespielt haben, sind dann die empfänglicheren Trainer für diese Veränderungen. Die freuen sich ja über jede Hilfestellung.
Thiel: Absolut: Sie sind Begleiter und Organisatoren. Mir ist ein Trainer, der die Kids eine Stunde kicken lässt, lieber als einer, der sie eine Stunde in öden Taktikübungen über den Platz schiebt.
Trainer Thiel
Junioren: TSV Tauberbischofsheim C-, B- und A-Junioren-Verbandsliga, DFB-Stützpunkt-Trainer Altheim, Co-Trainer U17 Bayernliga und Cheftrainer U14 beim FC Würzburger Kickers.
Senioren: TSV Tauberbischofsheim, VfB Heidersbach (beides kreisliga), VfR Gerlachsheim, Eintracht Walldürn (beides Landesliga), SV Pülfringen (Kreisklasse A und Kreisliga).
Aktuell: Cheftrainer U14 und sportlicher Bereichsleiter Perspektivteam, U12 bis U14 FC Würzburger Kickers
Aber das muss ja dann auch mal irgendwann sein. Ab der B-Jugend?
Thiel: Nein, nicht so starr. Man kann doch schon viel früher kleinere taktische Elemente einfließen lassen. Aber man soll die Kinder nicht ewig rumstehen lassen und jeder spielt in zehn Minuten nur einen Pass.
Wann soll bewertet werden, ob diese Umstellung dann auch etwas bringt?
Thiel: Das ist ein laufender Prozess. Da wird sicher auch Feedback von den Junioren-Nationalmannschaften mit einfließen, weil man da die Entwicklung am besten sieht. Es ist nichts in Stein gemeißelt; es kann beispielsweise immer wieder bei den Spielfeldgrößen variiert werden.
Um den alten Haudegen zum Abschluss doch noch ein bisschen Hoffnung zu machen: Welche Übung „von früher“ ist heute immer noch gut?
Thiel: Ein „vier gegen zwei“, ein „fünf gegen zwei“. Ein „Eckle“ halt, wie hier in der Gegend gesagt wird. Ein „Eckle“ geht immer, und da gibt es zig Variationen.
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