Main-Tauber-Kreis. „Unsere Experten haben einen sehr weiten Blick in die Gesellschaft.“ Stefan Schneider, derzeitiger Sprecher der Liga der Freien Wohlfahrtsverbände im Main-Tauber-Kreis, versteht den Zusammenschluss als gemeinsame Arbeitsplattform zum Austausch über soziale Fragen. Gerade Corona habe gezeigt, wie groß die Herausforderungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen seien. „Ausgrenzung durch Corona vermeiden – Folgen überwinden und Demokratien stärken“ lautet deshalb der Titel der landesweiten Aktionswoche der Armut. Im Main-Tauber-Kreis nahm man diesen Slogan zum Anlass, um konkret zu werden.
Politische Dimension der Armut
Armut, so Schneider, habe nicht nur einen finanziellen Aspekt, sondern betreffe auch die Bereiche Gesundheit sowie die persönliche und soziale Entwicklung. Sie habe damit durchaus eine politische Dimension. Die zeigte sich im Laufe des rund zweieinhalbstündigen Gesprächs deutlich. Denn es ging nicht zuletzt darum, dass Prioritäten gesetzt werden müssen, um präventive Arbeit leisten zu können. Und weil hier Fachpersonal unentbehrlich ist, kostet das auch Geld.
Carmen Keppner von der Jugendhilfe Creglingen berichtete von vermuteten oder bekannten Gewaltsituationen in Familien, bei denen die Betreuer auch während der Corona-Pandemie vor Ort waren. Die Nachwirkungen der Isolation seien deutlich zu spüren. Kinder und Jugendliche hätten zu viele Medien konsumiert, seien zu viel allein und ohne soziale Kontakte und Ansprache gewesen.
Keppner beschrieb einen jungen 18-Jährigen, der seit zwei Jahren die Schule nicht mehr besuche, nachts spiele und tagsüber schlafe. Sein Lebensrhythmus sei komplett aus den Fugen geraten. Nun gelte es, „ihn wieder ins Leben zurückzuholen“, so die Sozialpädagogin. Ein langwieriger und mühsamer Weg für alle Beteiligten.
Dass die normalen Meldesysteme – Kindergärten und Schulen – durch den Lockdown weggefallen seien, stelle eine zusätzliche Bürde dar, so Keppner: „Nach und nach wird uns das vor die Füße fallen“, vermutet sie. Zudem stellte sie fest, dass die Drei- bis Vierfachbelastung Frauen extrem gefordert, wenn nicht überfordert habe: Beruf, Familie, Haushalt und Homeschooling seinen zu leisten gewesen.
Dem stimmte Carmen Ruck vom Caritasverband Heilbronn-Hohenlohe zu. Sie arbeitet in der allgemeinen Sozial- und in der Schwangerenberatung. „Frauen haben in der Pandemie ganz viele Rollen zu erfüllen gehabt und seien in tradierte Muster zurückgefallen“, meinte sie. Probleme träten in allen gesellschaftlichen Schichten auf. Viele Mittelstandsfamilien hätten Zukunftssorgen, weshalb sie derzeit keine Entspannung sehe. Wichtig sei es, das Netzwerk der Liga zu nutzen und unterschiedliche Dienste anzubieten. „Frühe Hilfen und die sozialpädagogische Familienhilfe ziehen an einem Strang“, stellte sie als dringend notwendig fest.
Sowohl Stefan Schneider als Moderator als auch den Experten war die Feststellung wichtig, dass ihre Dienste während der Pandemie immer zugänglich waren. Mit Fantasie, kreativen Treffpunkten und dem frühen Einsatz digitaler Technik sei die Arbeit mit den Familien fortgesetzt worden. Per „Walk and Talk“, Video und Telefon hätten Beratungsgespräche stattgefunden.
Schwierige Bedingungen
Von schwierigen Bedingungen zu Beginn der Pandemie sprach Elke Hauenstein vom Diakonischen Werk Main-Tauber-Kreis. Während des Homeschoolings im ersten Lockdown hätten in vielen Familien Tablets, PCs und Drucker gefehlt. Wenn nur ein Handy vorhanden gewesen sei, habe es immer Diskussionen gegeben, wer es benutzen dürfe. In der ersten Zeit sei es eine der Hauptaufgaben der Beratungsstellen gewesen, bei der Antragstellung zu unterstützen. „Wir konnten damit viele Familien im finanziellen Bereich abfedern“, zieht sie eine durchaus positive Bilanz.
Sie berichtete aber auch von schwer erklärbaren Sachverhalten. So habe es für Familien mit minderjährigen Kindern, die im Stichtagsmonat August 2021 Arbeitslosengeld II bezogen haben, einen „Kinderfreizeitbonus“ von 100 Euro gegeben. Haben die Kinder allerdings Unterhaltsvorschuss und Kindergeld erhalten und somit ihren nach Alter gestaffelten Regelsatz damit erfüllt, bekommt die Familie diesen „Freizeitbonus“ nicht. Im berichteten Fall handelte es sich um eine Alleinerziehende mit vier Kindern, die mehr als enttäuscht war, weil die staatlichen Versprechungen genau auf ihre Situation nicht zutrafen. Elke Hauenstein: „Da fallen einem als Berater die Erklärungen schwer – aber wir können nichts machen.“
Stefan Schneider appellierte als Liga-Sprecher, die Leistungen für die Kinder zu bündeln und nicht zu verrechnen.
Dass es nicht einfach gewesen sei, Zugang zu Leistungen zu erhalten, bestätigte auch Nadja Hildebrandt vom Caritasverband im Tauberkreis. „Es ist schwierig, einen gültigen Antrag bei den Behörden zu stellen“, stellte sie fest. Vieles sei sehr kompliziert und selbst telefonisch sei während der Lockdown-Zeit kaum eine Nachfrage möglich gewesen. „Wir haben uns als Türöffner für die Behörden sehen müssen“, so Hildebrandt. Und Elke Hauenstein fügte an: „Unsere Klientel hat die Instrumente einfach nicht, um das zu schaffen.“ Eine Aufgabe der freien Träger sei es zudem gewesen, das Kopieren von Unterlagen für die Ämter zu übernehmen.“
Das Thema Einsamkeit sprach Kristina Kreutzer-Konrad von der Schwangerenberatung beim Caritasverband im Tauberkreis an. Während der Pandemie habe keine Geburtsvorbereitung stattgefunden, Schwangere – vor allem Erstgebärende – hätten sich alleingelassen und unsicher gefühlt. Der Austausch untereinander habe ebenso gefehlt wie die Unterstützung der werdenden Großeltern.
Viele Väter, die ihre Elternzeit gerade aus diesen Gründen direkt nach der Geburt beantragt hätten, mussten lange Wartezeiten in Kauf nehmen. So sei es vorgekommen, dass sie sechs bis acht Wochen auf die Bewilligung warten mussten, während dieser Bearbeitungszeit aber kein Geld geflossen sei.
Von der schwierigen Situation der Familiengründung während der Pandemie und der Last des Alleinseins führte das Gespräch zu Robert Wenzel. Der Vorsitzende des Kreisseniorenrats wusste ebenfalls von Einsamkeit und Isolation zu berichten. „Gesellschaftliche Probleme wurden durch die Pandemie noch verschärft“, war er sich sicher. Die Höhepunkte für Ältere, wie der monatliche Seniorenkreis, seien weggefallen, Besuche wurden ausgesetzt. Zudem hätten jahrelang engagierte Ehrenamtliche die Pandemiezeit genutzt, um den schon lange angekündigten Absprung Realität werden zu lassen. Deshalb plane der Kreisseniorenrat jetzt, Schulungen für ehrenamtliches Engagement in der Seniorenarbeit anzubieten.
Hilfreich seien lokal verankerte Seniorenräte, die etwa in Wertheim Hilfe für Senioren beim Thema Impfen angeboten hätten. Er appellierte auch, Senioren digitales Wissen an die Hand zu geben. Denn gerade in der Pandemie habe sich gezeigt, wie wichtig die Kommunikation mit digitalen Medien sei.
Jörg Hasenbusch warf als Vorsitzender der Lebenshilfe ein Schlaglicht auf die Menschen mit Behinderung. „Die Vereinsamung war für uns in hohem Maß erschreckend“, blickte er zurück. Er machte außerdem auf die „beängstigende Entwicklung“ aufmerksam, dass Menschen mit geringen finanziellen Mitteln auch weniger Sozialkontakte haben. Deshalb plädierte er für eine bessere Dotierung für die Werkstattarbeit und keinen staatlichen Rückgriff auf die Eingliederungshilfe.
Dass ausgefallene Integrations- und Sprachkurse während der Pandemie langfristige Folgen für Menschen mit Migrationshintergrund haben, erläuterte Felix Müller, Leiter des Migrationsprogramms beim DRK. „Verzögerungen“, sagte er, „ziehen ein Armutsrisiko nach sich.“
Energie durch Demokratie
Abschließend warb Stefan Schneider dafür, die Netzwerkstrukturen weiterzuentwickeln und die Sozialraumorientierung weiterzubringen. Von Armut Betroffene sollten in gesellschaftliche Diskussionen einbezogen werden. Eine Idee sei, Bildungsangebote, die auch die demokratische Kultur förderten, in Familienzentren anzubieten.
„Durch Demokratie, durch das Zusammenspiel der Kräfte, entsteht Energie“, meinte der Liga-Sprecher. Es gelte, die Spiel und Gestaltungsräume zu nutzen. Weitere Vorschläge aus der Expertenrunde waren, eine kommunale Ombudsstelle bei sozialen Fragen einzurichten, um Menschen ein Lotsensystem zu bieten und eine Wohnraumberatung im gesamten Main-Tauber-Kreis anzubieten.
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