Odenwald-Tauber. Auf der Straße werden mit Jacken die „Tore“ abgesteckt, einer hat einen Ball dabei und schon geht es los. Es wird nach Herzenslust gekickt, gelacht, gejubelt – und um jeden Ball gekämpft. Und wer keine Straße zum Kicken hat, geht mit Freunden auch den örtlichen Fußballplatz. Da ist es egal, wie gut man spielt. Der Spaß steht im Vordergrund. Oder man schnappt sich die Räder, ist unterwegs und abends wieder zuhause. Solche Szenen kennen viele Erwachsene gerade im ländlichen Raum noch sehr gut, haben sie vielleicht selbst erlebt. Bewegung in der Natur nach Schule und Hausaufgaben gehörte früher zum Alltag.
Heute ist das oft anders – was per se nichts Schlechtes sein muss. Doch Michael Fath, Kinderarzt aus Neckarbischofsheim und beim Badischen Turnerbund in der Übungsleiterausbildung für die Bereichen Prävention und Kindergesundheit engagiert, hat bei seinen jungen Patienten andere Erfahrungen gemacht. Kürzlich habe er eine Zehnjährige nach ihren sportlichen Hobbies gefragt, sagt er. Die Antwort. „Ich fahre Ski.“ Ob sie schon auf den Bergen in Österreich gewesen sei, wollte der Mediziner wissen. „Nein, ich fahre auf der Wii“, sagte das Mädchen. Konsole als Ersatz für sportliche Betätigung?
„Bewegungsarmut bei Kindern ist kein Phänomen unserer Zeit“, sagt Fath und verweist auf eine Studie von vor 20 Jahren. Damals seien im Raum Heilbronn Grundschüler der ersten und vierten Klasse auf ihre Fitness geprüft worden, wenn sie eine Stunde mehr Sportunterricht hatten. Ergebnis: Sie waren fitter und gesünder. „Das ist nicht wirklich verwunderlich“, so der Mediziner.
Andere Studien sehen das kritischer, Forschende sprechen gar von einer erheblich schlechteren körperlichen Fitness der Kinder. Ihnen fehle die nötige Muskelkraft, um zum Beispiel auf einem Klettergerüst zu klettern.
Soweit geht Fath nicht. „Die Bewegung der Kinder kann sich in 20 Jahren evolutionär nicht soweit verschlechtern“, ist er überzeugt. Seine Einstellung: Die Kinder sind nicht weniger beweglich, sondern einfach nur ungeübt. In seinen Augen sind normalgewichtige Kids genauso sportlich wie zu seiner Zeit. Fath verweist auf die Aktivitäten bei einem Zeltlager. „Kinder brauchen Zeit, um Spaß zu haben. Und dann bewegen sie sich auch.“
Das natürliche Bewegungsbedürfnis der Kinder hat auch die Weltgesundheitsorganisation WHO erkannt. Sie empfiehlt mindestens 60 Minuten körperliche Aktivität für Kinder und Jugendliche täglich. In Zeiten von Corona und Homeschooling haben diesen Wert wohl nicht alle Kinder erreicht. Immer mehr sitzen vor dem Computer oder dem Handy statt nach draußen zu gehen. Mit dazu beigetragen hat auch die Tatsache, dass wegen der Pandemie viele Übungsstunden ausgefallen sind, vom Kinderturnen über Bambini-Fußball bis zum Wettkampfsport.
Für den Mediziner ist Bewegungsarmut jedoch kein Problem der Kinder oder Jugendlichen, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Auch immer mehr Erwachsene seien sitzend mit dem Handy in der Hand anzutreffen, statt zu laufen, bemängelt er. Doch verteufeln will er Smartphone und Co nicht. „Die Geräte haben nicht zu mehr Bewegungsarmut beitragen, aber zu einem optimierten und getakteten Tagesrhythmus geführt, in dem nur wenig Platz für Spiel und Bewegung ist.“
Abhilfe gerade für Kinder könnte mehr sportliche Aktivität in Kindergarten und Schule sein. „Wenn man den Rahmen gibt, der die Bewegung ermöglicht, dann machen auch alle mit“, ist er überzeugt. Doch ohne finanziellen Aufwand und mehr Pädagogen würde das nicht funktionieren. Der wichtigste Schlüssel für mehr Bewegung ist für den Kinderarzt daher die Familie: „Wenn die Eltern sich bewegen und im Verein aktiv sind, sind es meist auch die Kinder.“ Deshalb ist seine Forderung klar: „Wir müssen alle dazu bekommen, sportlicher zu werden, ob jung oder alt.“
Und das hat ganz praktische Gründe – nicht nur, dass sportliche Betätigung zu einem gesünderen Lebensstil, höherer Konzentrationsfähigkeit und besserem Schlaf führt. Der Stoffwechsel funktioniert auch reibungsloser, Verletzungen kann der Körper besser wegstecken, sagt der 53-jährige Mediziner. Eine normale gesunde Bewegung dient als Prophylaxe bei Diabetes und Adipositas. „Übergewichtige haben ein rund 20 Prozent höheres Krebsrisiko.“ Und Jugendliche, die Sport treiben, kommen einfacher durch die Pubertät und „können das hormonelle Durcheinander im Körper auch mal ablegen“. Nicht unerheblich sind für Fath auch soziale Kompetenz und das Umfeld, das ein Verein bietet, und damit die Motivation steigert. Ob sportliche Betätigung im Verein oder alleine: Für den Kinderarzt steht das nicht an erster Stelle. „Hauptsache die Kinder und Jugendlichen bewegen sich überhaupt.“ Entscheidend sei die Quantität. Und welcher Sport ist der beste? „Derjenige, der am meisten Spaß macht.“
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