Wertheim. Missmut erntete Jan Hacker in den sozialen Medien für seine Äußerungen im ARD-Morgenmagazin, das vergangenen Freitag über die Situation am Wertheimer Bürgerspital und die Gesundheitspolitik in Bezug auf die Krise vieler Krankenhäuser berichtete. Auf die Frage der Moderatorin im Studio, ob Krankenhäuser im ländlichen Raum überleben können, sagte er: „Die meisten nicht. Da müssen wir ganz ehrlich sein. Das ist bitter, das ist auch für Wertheim bitter, das ist überhaupt keine Frage.“
Die Fränkischen Nachrichten hakten bei dem Gesundheitsökonomen nach, der mit seinem Unternehmen nach eigenen Angaben an der Vorbereitung der Krankenhausreform des früheren Gesundheitsministers Karl Lauterbach beteiligt war. Man habe das Ministerium im Vorfeld der Gesetzgebung beraten und unter dem Einsatz von IT-Systemen unterschiedliche Szenarien simuliert. Das Gesetz selbst sei allerdings das Ergebnis eines politischen Prozesses gewesen.
Wie ordnen Sie die Insolvenz der einstigen Rotkreuzklinik in Wertheim im Kontext der allgemeinen Entwicklung kleiner Kliniken im ländlichen Raum ein?
Jan Hacker: Es ist eine von vielen Insolvenzen kleiner Krankenhäuser. Man kann dem Betreiber wahrscheinlich keinen Vorwurf machen. Die Rahmenbedingungen für den Betrieb kleiner Kliniken haben sich über die vergangenen 15 Jahre immer weiter verschlechtert, weil immer weniger Patienten kommen, auch immer weniger Personal dorthin will und die Kosten stärker als die Erlöse gestiegen sind. Deswegen hat mich die Insolvenz nicht erstaunt. Seither haben sich die Rahmenbedingungen für den Betrieb kleiner Häuser weiter verschlechtert.
Aus Sicht vieler Wertheimer Bürgerinnen und Bürger wäre der Wegfall ihres lokalen Krankenhauses ein schwerer Verlust. Sie sagen, dass oft weniger als 30 Prozent der Bevölkerung die kleinen Krankenhäuser vor Ort nutzen. Warum laufen diese Versorgungsrealität und die lokale Erwartungshaltung so weit auseinander?
Hacker: Weil das Thema ein höchst emotionales ist. Natürlich möchte man immer ein Krankenhaus vor Ort haben, und diese Diskussion wird überwiegend von Menschen geführt, die das Krankenhaus gar nicht nutzen. Vier von fünf Menschen müssen nicht in eine Klinik – jedes Jahr. Das ist gut, denn sie sind gesund oder zumindest nicht so krank, dass sie ein Krankenhaus brauchen. Trotzdem ist es ein gutes Gefühl, ein Krankenhaus vor Ort zu haben. Aber wenn es dann um die Frage geht, wo beispielsweise ein künstliches Kniegelenk implantiert wird, die Herzkatheter-Untersuchung oder ein geplanter operativer Eingriff stattfindet, dann recherchieren die Patienten im Internet und prüfen die Bewertungen oder fragen einen niedergelassenen Arzt, wo die beste Klinik für sie ist. Wenn dann die Aussage kommt, dass Klinik XY es am besten erledigt, aber nicht das Krankenhaus in Wertheim, dann fährt man dort hin.
Glauben Sie, dass durch die geplanten Anpassungen an der Krankenhausreform langfristig Standorte wie das Wertheimer Bürgerspital zu retten sind? Oder verzögert sich nur das unvermeidliche Aus?
Hacker: Da gibt es keine pauschale Antwort. Für die meisten kleinen Häuser wird es wahrscheinlich noch nicht mal eine Verzögerung sein. Im Grunde genommen gibt es keine großen Änderungen und deswegen ändert sich auch nicht die Prognose für die Zukunftsfähigkeit einzelner Kliniken. Es sind nicht viele Erleichterungen dazugekommen. Erst jetzt ist die geplante Zusatzfinanzierung für 2025 sogar reduziert worden.
Die Zahl von vier Milliarden Euro stand im Raum…
Hacker: Ja, die sollen über einen Rechnungszuschlag von 3,45 Prozent zum Jahresende ausgeschüttet werden. Jetzt werden es wahrscheinlich nur 3,33 Prozent sein, weil man die Finanzen der Krankenkassen im Blick haben muss. Das grundlegende Problem kann man durch ein Gesetz gar nicht aus dem Weg räumen: Die kleinen Krankenhäuser haben zu wenig Patienten, und sie haben zu wenig Personal. Viele Patienten gehen lieber woanders hin. Junge Assistenzärztinnen und Assistenzärzte beispielsweise möchten ihre Facharztausbildung an einem Stück machen. Wenn ein Haus nicht die volle Weiterbildungsberechtigung hat, weil es zu klein ist und nicht genügend Patienten hat, dann ist es für Nachwuchsmediziner weniger attraktiv. Sie lassen sich oft lieber komplett in einem Haus ausbilden.
Die Landespolitik betont, mit mehr Beinfreiheit die Kliniken im ländlichen Raum erhalten zu können. Sie sind da eher skeptisch. Was wären aus Ihrer Sicht nachhaltige Ansätze für eine sichere Gesundheitsversorgung in Regionen wie Wertheim?
Zur Person: Jan Hacker
Jan Hacker (Jahrgang 1972) ist Vorstandsvorsitzender der Oberender AG , einer der führenden Unternehmensberatungen im Gesundheitswesen in Deutschland, das sich auf die Entwicklung und Umsetzung von Strategien für Krankenhäuser, Rehakliniken, Pflegeheime und andere Leistungserbringer konzentriert.
Als Berater kennt er das Wertheimer Krankenhaus noch aus der Zeit vor der Übernahme der Rotkreuzschwestern. Damals sei es um die Frage gegangen, ob und wie ein Ärztezentrum angegliedert werden kann, sagt er.
Seine Laufbahn startete der Diplom-Betriebswirt bei der Rhön Klinikum AG. 2006 gründete er zusammen mit Partnern die Beratungsgesellschaft Econo Medic AG, die später in der Oberender AG aufging. wei
Hacker: Dazu braucht man zunächst ein Zielbild. Man muss sich einig sein, was überhaupt eine sichere Gesundheitsversorgung ist. Möchte man eine gute Versorgung mit mittleren bis großen Krankenhäusern sicherstellen, die dafür sorgt, dass die Leute, die schnell ins Krankenhaus müssen, auch schnell hinkommen, zum Beispiel durch mehr Hubschrauber oder engmaschigere Rettungsdienste, dann sind wir auf dem Weg. Genau das das passiert nämlich gerade. Sollte die Zielsetzung sein, eine Sicherstellung so zu organisieren, dass es in Wertheim und vielen anderen Orten in Deutschland weiterhin kleine Versorgungskrankenhäuser gibt, dann müsste man um 180 Grad umsteuern. Das Finanzierungssystem wäre dann so wie bei der Polizei und der Feuerwehr. Grob formuliert: Die Klinik schreibt auf, was es kostet, und die Krankenkasse zahlt. Das würde aber den Finanzrahmen der gesetzlichen Krankenversicherung sprengen.
Mit der Reform sollen die Spezialisierung und höhere Qualität gefördert werden. Sehen Sie einen Weg, wie Krankenhäuser im ländlichen Raum spezialisierte Leistungsschwerpunkte entwickeln könnten – oder ist das generell unrealistisch?
Hacker: Es gibt nicht viele Beispiele, bei denen das funktionieren könnte. Spezialisierungen benötigen oft die Einbettung in einen sehr viel breiteren Kontext. Wenn sich ein Haus auf eine spezielle Krebserkrankung spezialisiert, braucht es die Infrastruktur drumherum. Das können eher die größeren Häuser bereitstellen. Aber es gibt ein paar Indikationen, die man durchaus auch in kleineren Krankenhäusern und in Fachkliniken machen kann.
Welche zum Beispiel?
Hacker: Für das Einsetzen künstlicher Knie- oder Hüftgelenke zum Beispiel benötigt man keine großen Häuser.
Die Macher des Wertheimer Bürgerspitals sind Spezialisten in der Bariatrie, also der Behandlung von krankhaftem Übergewicht…
Hacker: Bei der bariatrischen Chirurgie ist es nicht trivial, weil es schon eine aufwändige Form der Medizin ist und es sich um Patienten handelt, die oft auch weitere Leistungen benötigen. Aber den Versuch kann man natürlich unternehmen. Es wäre dann eine Fachklinik, kein Versorgungskrankenhaus, wie es sich die Wertheimer wünschen.
Aber es ist das erklärte Ziel, mit finanzieller Hilfe der Kommune eine Notfallversorgung zu etablieren. Zudem soll das Bürgerspital ein Haus der Grund- und Regelversorgung sein. Halten Sie das für unrealistisch?
Hacker: Es sind zwei unterschiedliche Themen. Das Fachklinik-Angebot kann funktionieren. Die meisten dieser Angebote zeichnen sich aber dadurch aus, dass es schon viele Anbieter gibt. In der Regel übersteigt das Angebot die Nachfrage, weil andere erkannt haben, dass es dezentral realisierbar ist und man damit sogar Geld verdienen kann. Von der Bariatrie konkret dürften keine großen medizinischen Synergien ausgehen. Die spezialisierten Chirurgen werden nicht umfänglich etwas zur stationären Notfallversorgung beitragen können. Die ist medizinisch viel breiter aufzustellen und in einem kleinen Krankenhaus nur sehr schwer vorzuhalten. Man muss das gedanklich auseinanderhalten.
Sie sagten im ARD-Morgenmagazin, medizinischer Fortschritt mache die wohnortnahe Versorgung in kleinen Häusern praktisch unmöglich, weil der Aufwand für die Anwendung neuer Verfahren enorm ist. Was wäre Ihr Rat an die Stadt Wertheim und Kommunen in ähnlicher Situation? Sollte man weiter für das Überleben kleiner Kliniken kämpfen – oder aktiv neue Formen der regionalen Versorgung entwickeln und akzeptieren, dass sich die Krankenhauslandschaft dauerhaft verändert?
Hacker: Die Unterstützung für das Bürgerspital-Projekt in der Kommunalpolitik und der Stadtgesellschaft hat meine hundertprozentige Sympathie. Leider geht der Weg in die falsche Richtung. Für all die Wertheims in Deutschland könnte es eine bessere Lösung geben. Die Regelungen in der Krankenhausreform von Karl Lauterbach zu den sogenannten sektorübergreifenden Versorgungszentren sind leider schwammig. Erst in ein paar Jahren muss die Reform in den Landeskrankenhausgesetzen umgesetzt werden. Auch ist die Finanzierung bislang völlig unklar.
Was steckt dahinter?
Hacker: Das Geschäft der früheren Grund- und Regelversorgungshäuser bröckelt an zwei Seiten. Einerseits wandert es immer mehr in die großen Kliniken, was die schwierigeren Fälle betrifft. Andererseits werden die leichteren Fälle zunehmend ambulant versorgt. Es gibt aber weiter einen lokalen Bedarf, was Notfälle betrifft, die vor Ort versorgt werden können. Zudem gibt es nichtmobile Patienten, die einen pflegerischen Bedarf haben, etwa Hochbetagte, die aus medizinischen Gründen nicht im Seniorenheim bleiben können, beispielsweise bei einem Infekt. Ein solcher Patient muss nicht in einer Uniklinik behandelt werden. Für diese Fälle soll eine neue Form von Krankenhaus geschaffen werden: die sektorübergreifenden Versorger. Hier werden viele Patienten ambulant behandelt. Niedergelassene Ärzte können dort mitarbeiten und arbeitsteilig wie in einer Praxisgemeinschaft kooperieren. Und es gibt Betten, die primär pflegerisch geführt werden. Es wäre mehr als nur eine ambulante Versorgung, verzichtet anderseits aber auf eine ärztliche Präsenz rund um die Uhr wie in einer kleineren Klinik, für welche die Nachfrage in Zukunft weiter schrumpfen wird. Eine solche Einrichtung wäre genau das, was Wertheim braucht. Karl Lauterbach hat dies zwar im Gesetz vorgesehen, aber jetzt vergehen erstmal drei Jahre, bis es konkretisiert ist. Im baden-württembergischen Landeskrankenhausgesetz ist es noch gar nicht enthalten. Zudem ist nicht festgelegt, wer das überhaupt bezahlt.
Es dürfte also noch einige Zeit vergehen, bis das Konzept umgesetzt wird.
Hacker: Wenn es Wertheim gelänge, das Haus drei Jahre weiterzubetreiben und man in dieser Zeit planen würde, wie man eine neue Struktur schafft, wäre dies eine Perspektive. Es gäbe dafür genügend Patienten und es wäre auch für Ärztinnen und Ärzte sowie medizinisches Fachpersonal attraktiv genug. Es füllt die Lücke zwischen rein ambulanter und klassischer stationärer Versorgung. Die könnte ich mir in Wertheim und an vielen ähnlichen Orten in Deutschland gut vorstellen.
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