Wertheim. Wertheim kennt die „Lange Nacht der Museen“ sowie die „Lange Nacht der Demokratie“. Am vergangenen Freitag konnte man bei der dritten „Langen Nacht der Stiftskirche“ das zentrale Wertheimer Gotteshaus „mit allen Sinnen erfahren“, wie es in der Ankündigung geheißen hatte.
Zu sehen gibt es in der Kirche ohnehin kunsthistorisch Bedeutendes. Doch durch die besondere Illumination des Altarraums mit zahlreichen Kerzen sowie der Kirchenschiffe mit vielfarbigen Scheinwerfern sahen die Besucherinnen und Besucher vieles in buchstäblich neuem Licht.
Zu Schmecken gab es reichlich in den Seitenschiffen: Erfrischungsgetränke, Gebäck, Crêpes und Cocktails. Riechen konnten die Besucher das Laub des herbstlichen Blumenschmucks im Altarraum und die milde Kühle des großen Raums am ganzen Körper spüren.
In der Heilig-Geist-Kapelle gab es die Möglichkeit, Blumenkärtchen mit Dank an Gott zu beschriften und auf der Empore war aus Ziegeln eine Miniatur-Klagemauer errichtet worden. Hier steckten Gläubige und Hoffende Klagen und Bitten zwischen die Spalten der Steine. Einige der Zettelchen lagen einfach daneben. „Du weißt schon…“ stand vielsagend auf einem davon.
Eine Etage darunter neben der Weltkugel galt es zu schreiben, welche Lieder man zum Abschluss des Abends bei der „geistlichen Hitparade“ singen und hören wollte. Denn das Hören stand wohl trotz allumfassender kirchlicher Sinnlichkeit im Zentrum der langen Nacht.
Lieder zum Hören und Mitsingen
Zu Beginn erfüllte der Nassiger Posaunenchor, geleitet von Herbert Dosch, kraftvoll tönend das gut gefüllte Gotteshaus. Der Thüngersheimer Männerchor und die Jugendkantorei Wertheim, beide geleitet von Bezirkskantor Carsten Klomp, folgten mit zahlreichen bekannten Liedern, auch zum Mitsingen, ebenso wie der Flötenkreis aus Waldenhausen, geleitet von Dorothee Jakob.
Bei der abschließenden „Hitparade“ wurden Lieder aus den zahlreichen Wünschen der Anwesenden ausgewählt. Carsten Klomp hatte nun die Aufgabe, vom Blatt an Orgel und E-Piano zu begleiten und zu improvisieren.
Die Besucherinnen und Besucher der „Langen Nacht“ hatten sich zum einen Hits aus den 1970er und 1980er Jahren ausgesucht, wie Norbert Kissels „Lobe den Herrn, meine Seele“ und das neue geistliche Lied „Laudato si“. Beide sind aus dem ökumenischen Liedgut kaum mehr wegzudenken.
Zum anderen ging es musikalisch und textlich weit zurück in die protestantische Vergangenheit. Paul Gerhardts barocker, pietistischer Evergreen „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ von 1653 erklang schmissig zur bekannten, klassischen Melodie von August Harder. Von Matthias Claudius’ „Der Mond ist aufgegangen“ wurden gar alle Strophen gesungen. Das beliebte frühklassische Volks- und Kirchenlied nimmt Motive von Paul Gerhardts „Nun ruhen alle Wälder“ auf, das ebenfalls zur „Hitparade“ gehörte. Die Musik zum Paul-Gerhardt-Lied stammt allerdings noch aus vorreformatorischer Zeit, womit es am Freitagabend Beispiel war für die Brüche und Kontinuitäten kirchlicher Gesänge, ihrer Melodien und Texte.
500 Jahre evangelisches Liedgut
Mit Lesungen literarischer Texte begann vor etwa 35 Jahren die Mode der „langen Nächte“ im Kulturbetrieb. Und in dieser Tradition wurde am Freitag in der Stiftskirche wenige Tage vor dem Reformationstag das evangelische Kirchenliedgut gewürdigt. Denn vor 500 Jahren, 1524, hatte Martin Luther selbst mit dem „Achtliederbuch“ eine der ersten evangelischen Liedersammlungen im deutschsprachigen Raum herausgegeben. Zeitgleich war von Johann Walter ein Chorgesangbuch und noch im gleichen Jahr das „Erfurter Enchiridion“ erschienen, darin 25 Lieder, von denen noch heute 17 im evangelischen Gesangbuch enthalten sind.
Konfessionelle Brücke
Das Jahr 1524 gilt daher in gewisser Weise als Geburtsjahr des über den deutschen Sprachraum und über Konfessionsgrenzen hinaus kulturell bedeutenden evangelischen Liedguts. Dieses Verbindende wird im Alltag gelebt, ein Beispiel dafür ist das in der Stiftskirche verwendete Gesangbuch selbst, das von zwei unierten Landeskirchen (Baden und Pfalz), den Lutheranern in Württemberg und Elsass-Lothringen sowie von der reformierten Kirche Elsass-Lothringens herausgegeben und verwendet wird.
Konfessionelle Brücken schlug auch das Marienlied „Wunderschön prächtige“, dass zur „Hitparade“ auf einem der Wunschzettel stand. Dekanin Wibke Klomp kopierte rasch ein paar Mal Text und Noten, damit viele mitsingen konnten. Einmal geweckt, war die ökumenische Marienfrömmigkeit des Bezirkskantors kaum zu stoppen, so dass er die Melodie des bekanntesten deutschen Marienliedes „Maria zu lieben“ in seine improvisierte Orgelbegleitung gleich mit einfließen ließ.
Nach dreieinhalb Stunden langer Nacht erteilten die Pfarrerinnen Wibke Klomp und Sophia Weber den noch knapp 100 Verbliebenen den Segen. Eine individuelle Segnung durch Weber war den ganzen Abend über auch in der Sakristei möglich und wurde von Einzelnen in Anspruch genommen. Aufgeschlagen in der Bibel auf dem Altar der Sakristei war das Buch der Psalmen, der geistlichen Lieder des Volkes Israel, und damit das geistliche und geschichtliche Fundament jedes Kirchengesangs.
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