Wertheim. Gerald Strauß ist 63 Jahre alt. Eine seine liebsten Freizeitbeschäftigungen: lesen. Vor allem landen Sachbücher über die Geschichte oder Archäologie auf seinem Nachttisch. „Wenn es irgendwo einen offenen Bücherschrank gab, habe ich den besucht“, erzählt der Dertinger im Gespräch mit den Fränkischen Nachrichten.
Als dann der Rotary-Club unter Mitwirkung der Stadt Wertheim, des früheren Buchladenbesitzers Hartmut Müller und des Seniorenbeirats im Juli 2018 in Wertheim auf dem Wenzelplatz die Bücherzelle in Betrieb nahm, tat sich für das Gründungsmitglied des Seniorenbeirats recht schnell eine weitere ehrenamtliche Tätigkeit auf. Gerald Strauß kümmert sich seitdem liebevoll um die mit vielen Büchern verschiedener Genres bestückte englische Telefonzelle, aus der jeder Leser Bücher kostenlos mitnehmen darf.
Öffentliche Bücherbox
Sie heißen Bücherbox, Bücherzelle, Bücherschrank oder sogar Lesebaum und sind inzwischen in sehr vielen Städten anzutreffen.
Entstanden ist die Idee eines öffentlich zugänglichen Bücherregals bereits Anfang der 1990er Jahre, um den Austausch der Literatur zu fördern. Als Auslöser dieser Idee können die Installationen des Aktionskünstler-Duos Clegg und Guttmann in Graz und in Mainz 1991 gesehen werden.
Laut Wikipedia gibt es aktuell über 2800 öffentliche Bücherschränke in Deutschland, die meisten davon mit 588 in Baden-Württemberg (Stand 24. Februar 2022).
In einer Bücherbox können Bücher kostenlos, anonym und ohne Formalitäten mitgenommen und wiedergebracht oder getauscht werden.
Die Bücherzelle in Wertheim wurde im Juli 2018 eingeweiht.In Mondfeld und Dertingen gibt es ähnliche Angebote, allerdings in den Räumen der Sparkassenfilialen. hei
Zweimal pro Woche schaut er nach seiner Arbeit als Thermometerbläser in Kreuzwertheim auf dem Wenzelplatz nach dem Rechten, sortiert Bücher nicht nur ein, sondern auch mal aus, wenn beispielsweise das Deckblatt oder Seiten fehlen. „Was glauben Sie, was die Leute alles bringen“, schmunzelt Strauß. An diesem Dienstag findet er ein paar Nachschlagewerke für das Fach Mathematik in der Unterstufe. „So etwas gehört da nicht rein“, meint Strauß.
Hin und wieder kehrt er den kleinen Raum auch mal. „Schmutz ist nicht das Problem – eher, dass die Menschen die Bücher manchmal einfach auf den Boden schmeißen“, erzählt er und richtet währenddessen ein paar Exemplare wieder aus.
Selbst die Keile, die er mitgebracht hat, damit Bücherfans die Tür der Zelle offen halten können, sind mehrfach geklaut worden. Für so etwas hat Strauß nur noch ein Kopfschütteln übrig.
Als einmal viele Bücher fehlten, die dann in einem Billigmarkt zum Kauf wieder angeboten wurden, war er dann doch mehr als verwundert. Beweisen konnte er das in diesem Fall diebische Vorgehen allerdings nicht. Inzwischen haben auch aufmerksame Nachbarn ringsherum immer mal wieder ein Auge auf die frühere Telefonzelle.
Weil die Leser die Bücher kostenlos mitnehmen können, müssen die Regale immer wieder bestückt werden. Lange Zeit konnte Strauß dies aus dem Restbestand der aufgelösten Buchhandlung „Buchheim“. Eine ganze Kiste davon hat er noch.
Inzwischen schaut der Dertinger auch immer wieder die Kleinanzeigen in der Fränkischen Wochenpost durch. Gerade erst konnte er über 30 Bücher von einer Frau in Tauberbischofsheim für die Bücherzelle abholen. Während er davon erzählt, schaut Silke Matzer vorbei und stellt ein paar Bücher rein. Schnell kommt Gerald Strauß mit der Frau aus Kreuzwertheim ins Gespräch darüber, ob sie noch mehr Literatur abzugeben hätte und bietet sofort an, sie zu holen.
Während Lockdown sehr leer
Während der Pandemie und vor allem der Lockdowns registrierte Strauß, dass die Bücherzelle sehr oft ziemlich leergeräumt war. „Vor drei Wochen hat sich das wieder geändert. Seitdem sind manchmal so viele Bücher da, dass sie auch auf dem Boden gestapelt werden müssen“, freut sich Gerald Strauß.
Einer, der eifrig die Bücherzelle nutzt und erst vor kurzem zwei Leinentaschen voller Bücher zum Auffüllen vorbeibrachte, ist Innenstadt- und Burgmanager Christian Schlager. Fast jede Woche führt ihn sein Weg auf den Wenzelplatz. Sogar ein echtes kleines Schätzchen konnte er aus der Zelle mit nach Hause nehmen: der Roman „Abbitte“ des britischen Schriftstellers Ian McEwan. Selbst während des Fototermins für diesen Artikel muss er schauen, was es Neues seit seinem letzten Besuch gibt. „Das klingt interessant“, sagt er und zieht ein Buch heraus.
„Der Impuls für einen öffentlichen Bücherschrank, der von allen genutzt werden kann, kam von uns“, sagt der Vorsitzende des Seniorenbeirats, Jürgen Küchler. Er hatte vorher schon in anderen Städten diese Art der Literaturverbreitung gesehen. „Mit der Idee für diese Bücherzelle hat man auch bei mir vor Jahren wirklich offene Türen eingerannt“, erinnert sich Schlager an die Anfänge. Auch er kannte bereits dieses besondere Angebot in Großstädten. Der ursprüngliche Plan des Seniorenbeirats war es, so eine Bücherzelle direkt am Bahnhof aufzustellen. „Dort, wo viele Menschen warten müssen, macht so etwas ja Sinn“, sagt Küchler. Doch es kam anders.
Weil die Benutzung einer Telefonzelle Anfang 2018 schon antiquiert war, konnte recht schnell die Umwidmung am Wenzelplatz stattfinden. Der Wertheimer Rotary-Club gab das Geld für den Umbau und den passgenauen Einbau der Regale, der Seniorenbeirat übernahm fortan die Betreuung. Wie wichtig diese Art der „Betreuung“ ist, wird schnell klar, wenn man manche Bücherzellen in einigen Großstädten sieht, die völlig verdreckt niemanden mehr zum Lesen animieren. Dass die Bücherzelle in Wertheim so gut angenommen wird, ist somit vor allem auch der Verdienst von Gerald Strauß. Und während er im Gehen noch einmal einen Blick auf die Bücherzelle wirft, hat wieder eine Frau die Zelle betreten und nimmt das Angebot in Augenschein.
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