Medizinische Versorgung

Der Hilferuf aus Freudenberg

Nachdem eine Kinderärztin ihre Praxis in Miltenberg aufgegeben hat, finden Eltern aus Freudenberg keinen Spezialisten für ihren Nachwuchs. Mit diesem Problem könnten künftig noch viel mehr Eltern im Kreis konfrontiert werden.

Von 
Katharina Buchholz
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Kinderarztbesuche gehören für Eltern und (Klein-)Kinder zum Alltag, vorausgesetzt der Nachwuchs ist als Patient in einer Praxis aufgenommen. © dpd

Main-Tauber-Kreis/Freudenberg/Wertheim..

Main-Tauber-Kreis/Freudenberg/Wertheim. Zehn Vorsorge-Untersungen bis zum sechsten Lebensjahr, zahlreiche Impftermine und noch mehr Kinderkrankheiten: Eltern und ihre (Klein-)Kinder besuchen die Praxis ihres Kinderarztes sehr regelmäßig. Vorausgesetzt, sie haben einen.

„Können keine Ärzte backen“

Eltern möchten ihren Nachwuchs medizinisch gut versorgt wissen. Dafür, dass das nicht immer gelingt, stehen exemplarisch Kinder aus Freudenberg, die als ehemalige Patienten einer Kinderarztpraxis aus Miltenberg nach deren Schließung in keiner anderen Praxis unterkommen.

Zuständig für die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung ist die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW). Deren Sprecher Kai Sonntag legt dar, weshalb mehr Kassensitze nicht mit einer besseren Versorgung gleichzusetzen sind.

Wie kann die KVBW zu einer Lösung des Problems beitragen? Was raten Sie den Familien kurzfristig?

Kai Sonntag: Wir haben im gesamten Land ein Problem, was die kinderärztliche Versorgung angeht. Wir können keine Ärzte „backen“ und versuchen das, was im Rahmen unserer Möglichkeiten steht, zu unternehmen. Kurzfristig können wir den Eltern nur raten, ihren Suchradius für eine Kinderarztpraxis zu erhöhen. Auch unsere Terminservicestelle unter der 116 117 vermittelt Termine bei Kinderärzten. Und dann haben wir als KVBW noch ein Telemedizinangebot, das gerade für Eltern gute Möglichkeiten bietet. „Docdirekt“ ist über die App oder auch über die 116 117 zu erreichen.

Die Versorgung mit Kinderärzten ist im Main-Tauber-Kreis laut des Berichts der KVBW über dem Soll. Trotzdem stehen für den flächenmäßig großen Landkreis nur acht Kinderärzte zur Verfügung. Wird die KVBW hier nachbessern?

Kai Sonntag: Die KVBW kann gar nicht nachbessern, weil es kein Instrument der KV ist. Die Kontingentierung von Arztsitzen folgt einer Vorgabe des Bundes und orientiert sich nicht an der Fläche, sondern der Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in einem Stadt- oder Landkreis wohnen. Die Berechnung nimmt der Landesausschuss vor, das ist ein Gremium, das zur Hälfte aus Vertretern der Krankenkassen besteht. Allerdings hat die Erfahrung gezeigt, dass unser Problem nicht fehlende Sitze, sondern fehlende Ärztinnen und Ärzte sind. Auch wenn wir mehr Sitze ausweisen würden, hätten wir noch lange keine zusätzlichen Ärzte. kabu

Denn obwohl der Versorgungsgrad mit Kinder- und Jugendärzten im Main-Tauber-Kreis nach den Berechnungen der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) bei 118,3 Prozent liegt, finden nicht alle Eltern einen medizinischen Ansprechpartner für ihren Nachwuchs. „Konkret verbergen sich hinter den Zahlen lediglich neun Kinder- und Jugendärzte im gesamten Landkreis mit Praxen in Boxberg, Bad Mergentheim beziehungsweise Bad Mergentheim-Markelsheim, Lauda-Königshofen, Tauberbischofsheim und Wertheim“, weiß die persönliche Referentin des Landrats, Aylin Wahl.

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Daniela Käflein
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Durch das Raster der Versorgung fallen auch die Kinder des Freudenberger Bürgermeisters. Roger Henning wandte sich kürzlich während einer Ausschusssitzung des Kreistags hilfesuchend an die Landkreisverwaltung. Durch die altersbedingte Schließung einer Praxis in Miltenberg stünden seine eigene und viele andere Freudenberger Familien ohne Kinderärztin da.

Nur Absagen erhalten

Für Henning ist das Problem verkraftbar: „Meine Kinder sind mit acht und zehn Jahren so alt, dass sie aus dem Gröbsten raus sind und das Thema der U-Untersuchungen weitgehend abschlossen ist. Sie gehen künftig zu meinem Hausarzt.“ Andere trifft die Praxisschließung härter, zum Beispiel Familie Büttner mit ihren drei Töchtern. „Sobald wir im Januar über die bevorstehende Schließung der Praxis informiert wurden, haben wir versucht, Ersatz zu finden“, schildert Vater Bastian Büttner. Auf die Anfragen bei sämtlichen Kinderärzten in Miltenberg, Wertheim, Hardheim und Marktheidenfeld erhielt Büttner nur Absagen. Keine Praxis hatte mehr Kapazitäten frei, seine Kinder als Patientinnen aufzunehmen. „Als familienfreundliche Kommune wollen wir, dass die Versorgung gesichert ist, allerdings habe ich hier kaum Einflussmöglichkeiten“, bedauert Henning. Dass es ihm gelingen könnte, selbst einen Kinderarzt nach Freudenberg zu locken, glaubt der Bürgermeister nicht. Dazu fehlten aktuell attraktive Räumlichkeiten, mit denen sich werben lasse. Aber: „Wenn sich ein Kinderarzt bei mir meldet, dann finde ich was“, verspricht er.

Die nächste Anlaufstelle im Main-Tauber-Kreis ist für Kinder aus Freudenberg die Praxis von Martin Englert im MVZ Tauberfranken in Wertheim. Seine Praxis arbeite an ihrer Kapazitätsgrenze. „Der nächste Termin bei mir ist im März möglich. Die lange Infektzeit in diesem Winter hat das Problem zusätzlich verschärft, obwohl wir im November und Dezember regelmäßig bis 22 Uhr gearbeitet haben“, schildert Englert die Situation.

Deshalb nimmt die Praxis nur Kinder als Patienten neu auf, die in einem Umkreis von 20 Kilometern um Wertheim leben. Zusätzliches Kriterium: Nur Neugeborne kommen in Frage. Ausnahmen für die ehemaligen Patienten der Miltenberger Praxis soll es nicht geben. „Das hört sich vielleicht hart an, aber es ist nicht unser Problem, wenn es zu wenige Kinderärzte gibt, sondern ein politisches. Da müssen die Eltern auf die Straße gehen“, begründet Englert die Entscheidung. Die betroffene Praxis in Miltenberg habe zudem bereits seit Jahren angekündigt, dass sie schließen wird.

„Keiner will den Hut aufsetzen“

Nachdem seine Suche nach einem neuen Kinderarzt erfolglos verlief, führte Vater Bastian Büttner Gespräche mit seiner Krankenkasse und den Kassenärztlichen Vereinigungen Bayern und Baden-Württemberg. „Das Feedback war: Darauf haben wir keinen Einfluss.“

Er wünsche sich, dass sich die Landkreise rechtzeitig um Ersatz kümmern, wenn absehbar ist, dass eine Praxis schließt. Zumindest sollte es jedoch eine Strategie geben, wie Familien unterstützt werden können, die keinen Kinderarzt finden, mahnt der Vater an. Seine Erfahrung zeige jedoch, dass jede Stelle das Problem an eine andere verweise. „Es ist ein Armutszeugnis. Keiner will sich den Hut aufsetzen.“

Die Aufgabe, die ärztliche Versorgung sicherzustellen, liegt bei der KVBW, sagt Aylin Wahl. Der Part des Landkreises sei mangels konkreter Zuständigkeit, auf die missliche Situation aufmerksam zu machen, um so den Handlungsdruck der KVBW zu erhöhen. „Bereits die kreisbezogene Bedarfsbemessung für die Kinder- und Jugendärzte geht zumindest für einen Flächenlandkreis, wie dem Main-Tauber-Kreis, an der Realität vorbei. Für die Familien in Freudenberg sind lediglich Arztpraxen im Landkreis mit Sitz in Wertheim gut erreichbar. Alle anderen Standorte scheiden aus“, konkretisiert Wahl die Schwierigkeit. Reformbedarf sieht die Landkreisverwaltung zudem bei der Berechnung der Bedarfs. Acht Ärzte für eine Bedarfsdeckung von 100 Prozent seien wesentlich zu niedrig angesetzt. Der Landkreis werde gegenüber der KVBW deutlich machen, dass die bisherige Bedarfsbemessung dringend auf andere Füße zu stellen ist. „Ergänzend werden wir den Kontakt zum Landkreis Miltenberg sowie zur Kassenärztlichen Vereinigung Bayern suchen“, sagt Wahl zu.

Hausarzt als Notlösung

Über Umwege ist es den Büttners mittlerweile gelungen, zumindest für die jüngste Tochter, die nun sieben Monate alt ist, einen Kinderarzt zu finden. Ihre älteren Schwestern, fünf und acht Jahre alt, werden künftig von einem Hausarzt versorgt. Für Bastian Büttner ist das nur eine Notlösung. „Es ist beunruhigend zu wissen, dass wir niemanden haben, wenn eine der beiden eine kinderspezifische Erkrankung hat.“ In diesem Fall, so wurde Büttner geraten, sollten die Eltern den Notdienst kontaktieren oder ihre Kinder zur Behandlung ins Krankenhaus nach Aschaffenburg bringen.

„Ich telefoniere regelmäßig mit Hausärzten, wenn die eine Frage haben, beispielsweise zu einem 15-Jährigen“, berichtet Englert. Der Kinder- und Jugendarzt ist froh, wenn ihm Hausarzt-Kollegen Patienten abnehmen. Doch die Versorgung beim Hausarzt hat in zweierlei Hinsicht Grenzen. Zum einen sollten U-Untersuchungen nach Meinung des Mediziners beim Kinderarzt stattfinden, weil dabei entwicklungsspezifische Dinge untersucht werden. „Das gehört in die Hand eines Kinderarztes.“ Zum anderen schwinden auch die Hausarztpraxen: In Wertheim gaben in jüngster Vergangenheit zwei Hausärzte ihre Praxen auf, die bislang viele Kinder- und Jugendliche versorgt hatten, weiß Englert. „Unser Beruf wurde von Jahr zu Jahr unattraktiver gemacht. Da ist es klar, dass kein Nachwuchs mehr kommt.“ Allein im Main-Tauber-Kreis stünden drei Kinderärzte – in Tauberbischofsheim, Lauda und Bad Mergentheim – kurz vor ihrem Ruhestand. „Bei keinem von ihnen weiß ich von einer Nachfolge.“

Redaktion Im Einsatz für die Lokalausgabe Wertheim

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