Wertheim/Mosbach. Der Albtraum beginnt an einem Freitag im November 2018. Die Dachdeckerfirma bringt auf dem neu errichteten Flachdach des Hauses im Wertheimer Stadtteil Hofgarten eine sogenannte Notabdichtung an. Mit einer Folie werden die verbauten Holzplatten vor Nässe geschützt. Bauherr Jens Müller ist vorbeigekommen, um nach dem Rechten zu schauen. Er fragt noch beim Dachdecker nach, warum die Folie nur verklebt und nicht verschweißt werde. So kennt er das eigentlich. Antwort: Das sei heutzutage Standard.
Müller hatte in dem Haus vor dem Umbau mit seiner Familie gewohnt und im Untergeschoss Büros für seinen Pflegedienst untergebracht. Nach der Sanierung sollten hier diverse Wohneinheiten für Senioren zur Verfügung stehen.
Hintergrund: Die Pläne für das Gebäude im Hofgarten
- Jens Müller betreibt einen Pflegedienst in Wertheim sowie eine Tagespflege in Hasloch. Nach eigenen Angaben beschäftigt er über 70 Mitarbeiter.
- Das Gebäude „Am Bildacker“ im Hofgarten erwarb der examinierte Krankenpfleger 2007, nutzte es mit seiner Familie als Privatwohnung und brachte im Untergeschoss das Büro seines Unternehmens unter.
- Nach zehn Jahren wollte der 49-Jährige seinen Privatbereich verkleinern und stattdessen vier barrierefreie Mietwohnungen schaffen.
- Zudem sollten Intensivpflegeplätze entstehen, die auch für Beatmungen geeignet sind. wei
Jens Müller verlässt sich auf die Aussage des Dachdeckers. Am Wochenende, sagt er im Gespräch mit den Fränkischen Nachrichten, habe es dann heftigen Starkregen gegeben. „Sonntags rufen mich meine Mitarbeiter und schildern, dass das Büro unter Wasser steht – zentimeterhoch.“ Vom undichten Dach aus sind die Wassermassen über den ersten Stock bis ins Untergeschoss vorgedrungen.
Komplettes Gebäude nass
Müller alarmiert das ausführende Unternehmen und seinen Architekten. Ein Dachdecker versucht, die Notabdichtung zu reparieren. Zu spät. Mittlerweile ist das komplette Gebäude durchnässt. Was tun?
Szenenwechsel: Vor der Ersten Zivilkammer des Mosbacher Landgerichts sitzen am vergangenen Donnerstag die beteiligten Parteien. Eigentlich sind es zwei Verfahren, die verhandelt werden. Doch die Richterin hat sie „zusammengefasst“, um mit der anstehenden Beweisaufnahme zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Kläger in den Verfahren ist Jens Müller, Beklagte sind der Architekt und die Dachdeckerfirma.
Bei einer ersten Sitzung vor Monaten konnten sich die Parteien nicht auf einen Vergleich einigen. Also führt die hervorragend vorbereitete Richterin Susanne Wunderlich eine Beweisaufnahme durch, um mehr Licht ins Dunkel zu bringen.
Bei der Verhandlung geht es formal nur um eine Teilsumme des Schadens: Jens Müller macht „Anspruch auf Vorschuss für die Beseitigung von Baumängeln in Höhe von noch rund 190 000 Euro geltend“, heißt es in der Prozessankündigung. Der Kläger hat bisher 175 000 Euro erhalten. Den Schaden mit allen wirtschaftlichen Folgen schätzt er auf bis zu 800 000 Euro.
Selbst wenn er zunächst seine Verluste nicht in kompletter Höhe ersetzt bekommt, kann in dem laufenden Verfahren die Schuldfrage geklärt werden. Damit ließen sich die Beklagten anschließend vielleicht auf eine große Lösung ein, so die Hoffnung.
Um das Gesamtbild zu verstehen, muss man wissen, dass die Anwälte des Architekten und der Dachdeckerfirma eigentlich von den Haftpflichtversicherungen ihrer Mandanten gesteuert werden. Im vorliegenden Fall sind dies die Gesellschaften VHV Allgemeine Versicherung für den Architekten und die Nürnberger für das Handwerksunternehmen.
Im Hintergrund bestimmen sie, zu welchen Bedingungen ein Vergleich abgeschlossen wird. Die Anwälte dürften nach der Verhandlung am Donnerstag den Versicherungsgesellschaften keine guten Nachrichten gemeldet haben, denn die Beweisaufnahme war recht eindeutig.
Zunächst zurück zur Baustelle, denn das Drama ist noch nicht komplett erzählt. Nach dem Wassereinbruch veranlasste der Architekt laut Jens Müller, das Gebäude zu trocknen, allerdings nicht in ausreichendem Maße. Lediglich ein unterdimensionierter Heizlüfter sowie ein kleiner Gasbrenner seien benutzt worden, so Müller. Die Aussage des Architekten sei gewesen: „Das trocknet schon wieder.“ Zudem sei die Holzplatte komplett in Folie gehüllt worden, obwohl der Verdacht nahelag, dass diese durchnässt war.
Schimmel an etlichen Stellen
Schließlich habe der Architekt einen Trockenbauer angewiesen, die Decke von unten zu isolieren. Doch der Handwerker traute dem Braten nicht, wie er am Donnerstag vor Gericht als Zeuge vorträgt. Er maß die Feuchtigkeit. Ergebnis: bis zu 65 Prozent an verschiedenen Stellen. Daraufhin habe er eine sogenannte Behinderungsanzeige gestellt und damit den Parteien signalisiert, dass die Arbeiten nicht fortgesetzt werden können, sagt er vor Gericht. Der Bau stand anschließend still.
Der Architekt und ein Bauleiter des Dachdeckerunternehmens bestätigen vor Gericht die Abläufe im Wesentlichen, können die Vorwürfe nicht entkräften. Es geht um Details wie die Eignung der verwendeten Folien für die Verarbeitung bei bestimmten Temperaturen. Als Beobachter gewinnt man den Eindruck, die Anwälte der Beklagten versuchten, die Anteile der gemeinsamen Schuld dem anderen zuzuschieben.
Zeuge ist auch der Sachverständige Gerhard Führer, den Jens Müller beauftragt hatte, den unfertigen Bau auf Schimmel zu untersuchen. Das Ergebnis des Gutachtens: niederschmetternd. An etlichen Stellen war das Gebäude mit Schimmel belastet: Gesundheitsgefahr. Letztlich musste Müller das Gebäude entkernen. Heute ist es quasi wieder im Rohbauzustand.
Das sagen Verbraucherschützer zu Verfahren um Schadensersatz
- Zivilprozesse, bei denen Haftpflichtversicherungen von Freiberuflern oder Bauunternehmen beteiligt sind, werden oft ohne Urteil, sondern mit einem Vergleich abgeschlossen.
- Wie Matthias Bauer von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg auf FN-Anfrage erläutert, können die Versicherer sich „leisten, bis zum Ende der Instanzen zu gehen.“
- „Aufgrund ihrer Finanzkraft haben sie den längeren Atem“, sagt der Bau-Experte. Sie nutzten dies, um für sie günstige Vergleiche zu erreichen.
- Der Geschädigte überlege sich, ob er angesichts der langen Dauer und Ungewissheit über das Ergebnis eines Verfahrens, „den Spatz in der Hand, statt die Taube auf dem Dach“ wählen soll.
- Gerichte seien gesetzlich verpflichtet, auf eine einvernehmliche Erledigung hinzuwirken, den Gedanken der „Prozessökonomie“ zu fördern und so die Justiz von aufwendigen Verfahren zu entlasten.
- „Dabei gewinnen alle, außer der Geschädigte“, so Bauer. Der Verbraucher werde auf diese Art und Weise „in die Knie gezwungen“. wei
Anwälte zaudern
Richterin Wunderlich macht nach der Beweisaufnahme einen Vorschlag, um die Kuh vom Eis zu bekommen. Ein Viertel der Schuld treffe die Dachdeckerfirma, drei Viertel den Architekten. Die im Verfahren strittigen 190 000 Euro sollen gemäß dieser Anteile beglichen werden – „ohne Abrechnung“ wie Susanne Wunderlich anmerkt.
Über die weitere Schadensersatzforderung könnten die Parteien anschließend streiten, ohne dass Jens Müllers Forderungen verjähren. Markus Bermanseder, der Anwalt des Architekten meint: „Der Versicherer wird das wohl nicht akzeptieren.“ Schließlich handele es sich um einen „glasklaren Ausführungsfehler“ der Handwerker. Insgesamt sei die geforderte Summe auch zu hoch.
Basar im Gerichtssaal
Auch Bernhard Gurges, Anwalt des Dachdeckers, bezweifelt die Größenordnung des Schadens. Er bringt allerdings einen früheren Vergleichsvorschlag der Klägerseite auf den Tisch: 570 000 Euro standen damals im Raum. Als Gesamtregelung könne man das „noch einmal aufgreifen“. Das wundert Müllers Rechtsbeistand Bernd Kober, schließlich sprach man schon vor Monaten erfolglos darüber. Angesichts der Beweisaufnahme solle sich die Gegenseite darüber im Klaren sein, dass sie schlechte Karten habe, warnt Kober. Letztlich erinnert der Gerichtssaal eher an einen Basar als an einen Ort, an dem Recht gesprochen wird.
Jens Müller gibt sich unbeeindruckt: „Ziehen Sie es nur hinaus! Ich halte durch! Bis zum Schluss! Acht Jahre, wenn es sein muss“, ruft er in Richtung der Kontrahenten. Er habe genug Reserven, um bis zum Bundesgerichtshof zu streiten. „Dann kommt die Teuerungsrate und der Zins mit dazu.“ Sein Anwalt Kober rechnet vor, dass alleine der Verzugszins pro Jahr mindestens 20 000 Euro ausmachen werde. Das Drama wird im Juni vor Gericht fortgesetzt. Ein Termin ist schon vereinbart. Ob bis dahin doch eine einvernehmliche Lösung gefunden wird, darf bezweifelt werden.
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