Am 28. November 1941 - Jacob Ascher und Sigmund Emrich wurden als letzte Weikersheimer Juden „evakuiert“ / Jüdische Gemeinde hatte einst im Königreich Württemberg große Bedeutung

Eine Zugfahrt in den sicheren Tod

Von 
Hartwig Behr
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Weikersheim. Am 28. November 1941, um die Mittagszeit, begleitete der Gendarm B. (Baumann) zwei Männer, die verschnürte Pappkartons trugen, zum Weikersheimer Bahnhof. Einer setzte seinen Karton mehrmals ab, berichtete eine Augenzeugin. Beide hatten einen Brief mit der Anordnung bekommen, in einen besonderen Waggon des fahrplanmäßigen Zuges nach Stuttgart einzusteigen, um „evakuiert“ zu werden. Der Bürgermeister des Ortes war vom Landrat angewiesen worden, für den korrekten Ablauf der Abfahrt zu sorgen.

Die beiden Männer, Jacob Ascher und Sigmund Emrich, waren die beiden letzten Juden der 1935 aufgelösten Jüdischen Gemeinde, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht nur im Oberamt Mergentheim, sondern sogar im Königreich Württemberg große Bedeutung hatte: Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung in Weikersheim waren damals Juden; der Ort wurde Sitz des württembergischen Bezirksrabbinats mit den meisten „Seelen“ im Königreich; hier amtierte von 1825 an Dr. Maier Mainzer, der erste Rabbiner mit einer universitären Ausbildung, die wenige Jahre später von allen württembergischen Bezirksrabbinern gefordert wurde.

Die Anzahl der Juden im Ort und damit die Bedeutung ihrer Gemeinde nahm im Laufe der folgenden Jahrzehnte ab, da viele jüdische Familien in größere Städte zogen, so dass das Bezirksrabbinat 1914 aufgelöst wurde und von 1928 an in der Synagoge keine Gottesdienste mehr gehalten wurden. Das heute noch bestehende Gebäude war 1832 in der Oberen Judenschulgasse, seit 1909 Wilhelmsstraße, errichtet worden.

Es gab 1928 zu wenige religionsmündige jüdische Männer in Weikersheim. Es blieben jedoch noch einige Geschäftsleute im Ort, vor allem in der Hauptstraße und der heutigen Friedrichstraße. Sie hatten aber schon vor der so genannten Machtergreifung unter dem Druck der in Weikersheim nach 1929 sehr stark gewordenen Nationalsozialisten zu leiden. Der Ortsgruppenleiter Georg Hofmann, Hitler-Schorsch genannt, wurde 1932 verurteilt, weil er Max Wolfsheimer (*1885), der in der damaligen Bahnhofsstraße 6 (heute Friedrichstraße) den Sitz seines über die Landesgrenzen gehenden Pferde- und Getreidehandels hatte, mit übler Nachrede beleidigt hatte.

Nachdem Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt und praktisch durch die Wahl am 5. März bestätigt worden war, glaubten einzelne SA-Männer, sich Polizeibefugnisse anmaßen zu können. So wurde zum Beispiel Max Wolfsheimer Mitte März in Bad Mergentheim gefangen genommen, musste aber auf Anordnung des Oberamts wieder freigelassen werden. In der Woche nach dem 17. März 1933 terrorisierten SA-Männer aus Heilbronn - sie wurden von regulären Polizisten begleitet – Sozialisten und Juden in Öhringen, Künzelsau und Crailsheim. Am 25. März überfielen sie die Orte Niederstetten, Creglingen, Weikersheim und Bad Mergentheim.

Nicht mehr zurückgekehrt

An diesem Tag war Max Wolfsheimer, einer der größten Steuerzahler des Ortes, nicht in seiner Heimatstadt, sondern aus geschäftlichen Gründen im Elsass; vielleicht hatte er nach den Ereignissen in den Tagen zuvor auch für Weikersheim und für sich selbst – wohl zu Recht – Schlimmes befürchtet. Er bekam Kenntnis von dem Tag des Terrors in Hohenlohe und kehrte nicht mehr nach Weikersheim zurück. Er blieb in Colmar und holte 1934 seine Frau Frieda (geb. Königsberger, *1897) nach Frankreich wie auch seine Kinder Hans (*1920) und Liselotte (*1922). Ihnen überschrieb er seine Immobilien. Dieser Besitz wurde 1940 zwangsversteigert. Um seine Familie zu ernähren, arbeitete Max Wolfsheimer in den Jahren nach 1934 als Hilfskoch und Koch in Lyon. 1938 wanderte Hans in die USA aus. Nachdem die deutschen Truppen Frankreich 1940 überwältigt hatten, flohen die Wolfsheimers 1941 aus Lyon nach Portugal und gelangten 1942 in die USA. Die Eltern bauten sich in New York eine neue Existenz auf. Sie betrieben eine Pension. Max Wolfsheimer starb 1960. Liselotte, meist Lisel genannt, heiratete den Niederstettener Bruno Stern, der zwei Bücher über die Geschichte der Juden in der Region und über die Familie Stern veröffentlichte. Lisel besuchte mehrmals ihre Heimat. Hans, jetzt John, nahm 1990 die Einladung an, die Heimat zu besuchen und sprach mit Schülern des Weikersheimer Gymnasiums. Die Brutalität der Heilbronner SA-Männer bekamen am 25. März 1933 vor allem Ferdinand Selz (*1877 in Laudenbach) und sein Sohn Walter (*1907) heftig zu spüren. Sie betrieben in der Bahnhofstraße 7 (heute Friedrichstraße) ein verhältnismäßig großes Textil- und Schuhgeschäft, was sich auch in den umfangreichen Anzeigen in der Tauber-Zeitung widerspiegelte. Man suchte aber auch in Dörfern des weiteren Umkreis Kunden auf, um Aufträge zu erhalten.

Am 25. März wurden die beiden Geschäftsleute von Heilbronner SA-Männern, die aus Weikersheim Informationen bekommen hatten, welche Sozialdemokraten und Juden sie verhaften sollten, in ihrem Haus gefangen genommen, als Kommunisten beschimpft und verprügelt. Dem Vater, der im Ersten Weltkrieg vier Jahre für Deutschland gekämpft hatte, wurden die Zähne eingeschlagen, dem Sohn mit einem Knüppel auf den Kopf gehauen. Schließlich brachte man sie auf das Rathaus in der Hauptstraße. Nicht nur aus einem Bericht, den Walter Selz 1934 in Palästina verfasste, sondern auch aus den Spruchkammerakten geht hervor, dass die gefangenen Juden stundenlang mit dem Gesicht zur Wand stehen mussten. Der Weikersheimer Ortsgruppenleiter Hofmann beteiligte sich an den Folterungen. Auf Walter Selz wurde im Gefängnisraum des Rathauses mit Stahlgerten eingeprügelt, bis er ohnmächtig wurde.

Ferdinand Selz war Vater von fünf Kindern, von denen drei in die USA und zwei nach Palästina auswanderten. Er floh sofort nach Holland und ließ sich die dort die Zähne reparieren. Von Rotterdam wanderte er mit seiner Frau Mina (geb. Stein, *1870) im August 1933 in die USA aus. Er schrieb nach dem Krieg: „Aufgrund der Verfolgungen in Weikersheim gegen Juden … ins Ausland geflüchtet, um mein Leben zu retten. … Ich habe nach meiner Auswanderung nicht mehr beruflich Fuß fassen können … und schon seit vielen Jahren keinen Arbeitsverdienst mehr.“ Ferdinand Selz starb im Oktober 1950 in New York.

Walter Selz wurden am 25. März nicht nur gefoltert, es wurden ihm zum Spott auch Haare abgeschnitten. Es sei die neue deutsche Frisur, höhnten die SA-Männer. Er war einer der Juden, die aus dem Oberamt Mergentheim ins Heilbronner Gefängnis gebracht und dort „in Schutzhaft“ gefangengehalten wurden. Bekannte und Freunde wie der Mergentheimer Künstler Hermann Fechenbach bemühten sich um seine Freilassung.

Nach Palästina ausgewandert

Nach elf Tagen konnte Walter Selz nach Weikersheim zurückkehren. Er versuchte danach das Geschäft abzuwickeln und mitsamt dem Haus zu verkaufen. Das geschah vertraglich erst am 30. Januar 1934. Der studierte Textilchemiker und Geschäftsmann wanderte nach Palästina aus wurde dort Landwirt. Er kehrte 1934 für wenige Tage nach Deutschland zurück, um in Berlin eine Freundin seiner Schwester, die Ärztin Charlotte Wachtel, zu heiraten. Seine Schwester Irma (*1905) lebte schon als Ärztin in Palästina. Deren Nachkommen haben Interesse daran gezeigt, die Heimat ihrer Vorfahren kennenzulernen. Sie besuchten 2003 und 2015 Weikersheim.

In der Hauptstraße 27 besaß Sara Königsberger (*1867) ein Textilgeschäft, das ihre Tochter Thekla (*1898) in den 30-er Jahren erbte. Sie erklärte nach dem Krieg: „Nach der Machtübernahme … kam das Geschäft infolge Boykott und Verfolgung sofort zum Stillstand. Mein Geschäft war aufgebaut als Reisegeschäft, d. h. ich besuchte die Privatkundschaft und nahm meine Aufträge entgegen. Die Kundschaft bestand lediglich aus Landwirten und Arbeiterkundschaft. Nach der Machtübernahme konnte ich mich kaum noch in den von mir besuchten Dörfern sehen lassen, da ich fortwährend Beschimpfungen ausgesetzt war. Außerdem wurden … Schilder mit … >Juden unerwünscht

Am 29. Juni 1938 verkaufte Thekla Königsberger ihr Elternhaus und die Nebengebäude in der Mühlstraße. Sie hatte die Zeichen der Zeit erkannt und wollte deswegen auswandern. Sie konnte noch Hausrat mitnehmen. Am 24. August 1938 reiste sie von Le Havre aus nach New York, wo sie in der Bronx wohnte. Sie war bis 1943 als Haushaltshilfe tätig. Dann heiratete sie einen Witwer mit drei Kindern. Nach einem Umzug 1964 verliert sich ihre Spur, was für die USA wegen der fehlenden Meldepflicht nicht ungewöhnlich ist.

Sigmund Emrich wurde am 2. April 1893 in Weikersheim geboren. Er hatte von seinem Vater Wolf (*1855 in Merchingen/Baden) ein gut gehendes Geschäft für Landesprodukte am Marktplatz 6 übernommen. Die Waren wurden in den umliegenden Dörfern aufgekauft und an den Warenbörsen in Würzburg oder Mannheim abgesetzt. Wolle wurde direkt bei den Schäfern erworben und bei Aktionen in Ulm versteigert. Aber 1933 kam das Geschäft nahezu zum Erliegen. Kaum jemand traute sich noch, ihm Ware zu verkaufen oder abzukaufen. Sigmund Emrich musste sein Geschäft aufgeben. Sein Gebäudeteil am Marktplatz wurde zwangsversteigert. Nach der Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 wurde er ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Er musste nach seiner Rückkehr bei der Stadt Weikersheim Arbeiten wie Straßenfegen verrichten. Er wollte Deutschland nicht verlassen, weil seine Eltern noch in einem Heilbronner Altenheim lebten. Sie starben dort 1942.

Jakob Ascher wurde am 12. April 1888 in Weikersheim geboren. Er hatte in der Hauptstraße 45 seit 1919 ein kleines Textilgeschäft. Seine Haupteinnahme erzielte er dadurch, dass er mit dem Fahrrad die Landkundschaft aufsuchte. Der Boykott vom 1. April 1933 und die Aufforderung der württembergischen SA von 1934 „Kauft nicht beim Juden“ ruinierten sein Geschäft. Zudem kennzeichnete man seinen Laden später mit dem „Judenstern“. In der Reichspogromnacht wurden die Fensterscheiben des Geschäfts eingeschlagen und Kleidungsstücke entwendet. Auch Jakob Ascher wurde nach Dachau gebracht. Seine Frau Meta (geb. Grünewald,*1888), die mit ihrem Mann den Textilladen geführt hatte, war so erschüttert, dass sie sich in die Tauber stürzte und starb. Als Jakob Ascher aus Dachau entlassen worden war, musste er zum 31.12. 1938 sein Geschäft aufgeben, denn die Juden wurden aus dem deutschen Wirtschaftsleben ausgeschlossen. Sein Haus musste er im August 1939 verkaufen. Wie Sigmund Emrich hatte er Dienste für die Stadt Weikersheim zu leisten. Ihr letzter Arbeitstag für die Stadt Weikersheim war laut ihrer Arbeitskarte der 16. November 1941.

Mit Datum vom 19. November 1941 schickte die „Jüdische Kultusvereinigung Württemberg e.V.“, die unter der Aufsicht der Gestapo stand, einen Brief mit dem Betreff „Evakuierung“ an Jacob Ascher und Sigmund Emrich und an 998 weitere Juden in Württemberg. Dieser Brief vermittelte den Empfängern den Eindruck, dass sie östlich des Reiches angesiedelt werden sollten. Sie durften nämlich neben Kleidung auch Küchengeräte und Werkzeug mitnehmen. Sie sollten auch größere Gegenstände wie Öfen und Nähmaschinen bereitstellen, die ihnen angeblich mit einem besonderen Transport nachgeschickt werden sollten.

In dem Brief der Staatspolizeileitstelle Stuttgart vom 18. November 1941 an die Landräte, die wiederum die Bürgermeister informieren mussten, ist allerdings von einer „gesamteuropäischen Entjudung“ die Rede. Das lässt etwas ganz anderes als „Evakuierung“ und „Ansiedlung“ vermuten, wenn auch bei der Aufzählung der Gepäckstücke große Übereinstimmung mit dem Schreiben der Kultusvereinigung herrschte.

In Riga erschossen

1000 württembergische Juden wurden im November auf dem Stuttgarter „Gelände Killesberg-Weißenhof“ versammelt und am Morgen des 1. Dezember 1941 in Güterwagen nach Lettland transportiert. Sie kamen am 4. Dezember in Riga an und wurden auf dem landwirtschaftlichen Gut Jungfernhof – zumeist in baufälligen Scheunen und Stallungen – untergebracht. Während des sehr kalten Winters starben viele, andere wurden im März 1942 zu einer angeblichen Arbeit gelockt, aber in einem Wald nahe Riga erschossen. Über das Ende von Jacob Ascher ist nichts bekannt. Sigmund Emrich soll noch zwei Jahre gelebt haben und am 11. Februar 1944 gestorben sein.

Als der deutsche Staat Jacob Ascher und Sigmund Emrich zwang, am 28. November 1941 um 13.45 in den Zug nach Stuttgart zu steigen, in dem schon 27 Juden saßen, darunter zehn aus Edelfingen und elf aus Bad Mergentheim, ging eine über dreihundertjährige ununterbrochene Geschichte in Weikersheim zu Ende, die Geschichte der Juden der Neuzeit. Im Mittelalter waren Juden mehrmals von dort vertrieben worden. An sie erinnert in Weikersheim nichts, an die Juden der Neuzeit seit 1637 allerdings auch nicht viel: in der Öffentlichkeit lediglich eine bronzene Plakette, die 1981 an dem Haus, das vor der ehemaligen Synagoge steht, angebracht wurde. An einigen anderen Stellen gibt es Zeichen, die nur Wissende noch als Spuren jüdischen Lebens erkennen können. Dazu muss man allerdings auch den Friedhof für die Juden von Weikersheim, Laudenbach und Tauberrettersheim zählen, der in der Nähe von Honsbronn liegt.

Es wäre wohl angebracht, in der Stadt nicht nur an die letzten beiden im Weikersheim lebenden und deportierten Juden zu erinnern, sondern auch an die in Weikersheim geborenen Juden, die in der NS-Zeit von anderen Orten verschleppt und getötet worden sind, vielleicht auch an die, die vor dem Unrechtsstaat aus ihrem Geburts- oder Heimatort flohen, ja fliehen mussten. Da Laudenbach mittlerweile Teilort von Weikersheim geworden ist, müsste man wohl auch darüber nachdenken, ob man nicht für die Juden von Laudenbach gleiche Erinnerungszeichen setzen sollte.

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