Es ist etwas besonderes, Gunter Demnig bei der Verlegung seiner Stolpersteine über die Schulter zu schauen, mitzuerleben, wie sich der Mittsiebziger vor den Häusern niederkniet, sorgsam das Bett für die Steine bereitet, sie in den Boden einlässt.
Weikersheim. Nachdem Demnig sie besandet und abgewaschen hat, putzt er sie schließlich mit dem Taschentuch blank. 16 Stolpersteine verlegte Demnig, den sein Stolperstein-Projekt seit 1992 nie wieder losgelassen hat, am Donnerstag um die Mittagszeit in Weikersheim – am Marktplatz, wo heute eine Eisdiele zum Verweilen lockt, am Eingang zur Bahnhofstraße, beim heutigen Asia-Restaurant an der Friedrichstraße und vor zwei Wohn- und Geschäftshäusern in der Hauptstraße.
Über einhundert Menschen begleiteten Demnig bei seiner Arbeit, gedachten bei Klezmer-Klarinettenklängen und von der Singklasse der 7a vorgetragenen hebräischen Friedensliedern der Menschen, die Schülerinnen und Schüler vor ihren jeweils letzten frei gewählten Weikersheimer Wohn- und Arbeitsstätten eindringlich vorstellten.
Frieden für die Seele
Für die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs war Rabbiner Yehuda Pushkin aus Stuttgart gekommen. Die zum Gedenken mahnenden Stolpersteine ordnete er auch mit dem hebräisch und deutsch vorgetragenen Psamm 16 ein in das jüdische Verständnis: Der Toten zu gedenken gebe ihren Seelen ihr spirituelles Ziel und Frieden.
Die 16 Steine mit ihren Messingtafeln erinnern an die Familien Emrich, Wolfsheimer, Selz, Königsberger und Ascher, an die letzten 16 noch in Weikersheim beheimateten jüdischen Menschen.
Ab März 1933, so Hartwig Behr in seinem Vortrag beim anschließenden Festakt in der Tauberphilharmonie, sahen sie sich „einer Gewaltherrschaft gegenüber, die sie drangsalierte, zur Auswanderung veranlasste oder in den Tod trieb.“
Die 16 Stolpersteine in Weikersheim reihen sich ein in Zehntausende, die Demnig in den drei Projektjahrzehnten verlegte: 90 000 Steine dürften es noch in diesem Jahr werden – und jeder einzelne Stein, ob in Deutschland oder einem der weiteren 26 europäischen Ländern verlegt – steht für ein vom NS-Regime und den von ihm geprägten Bürgern zumindest gebrochenes Menschenleben.
Hätte man das so dokumentierte Grauen verhindern können? Das fragte sich Gemeinderätin Christiane Geier nach der Lektüre von Hartwig Behrs Buch „Zur Geschichte des Nationalsozialismus im Altkreis Mergentheim“. Ihrer Idee, dass Stolpersteine erinnern, zur Auseinandersetzung auffordern und idealerweise gegen weitere Menschenrechtsverbrechen immunisieren, folgte das Gremium einstimmig.
Stille Mahner
Angesichts wachsender antisemitischer und fremdenfeindlicher Tendenzen und auch des russischen Einmarschs in die Ukraine seien die als größtes dezentrales Mahnmal der Welt geltenden Stolpersteine „als stille Mahner wichtiger denn je“, so Bürgermeister Nick Schuppert bei seiner Begrüßung in der Tauberphilharmonie. Im Rahmen seines Rückblick auf die bis ins Mittelalter zurückreichende Geschichte der Juden in Weikersheim nahm Hartwig Behr, Mitglied der Projektgruppe, weitere Erinnerung verdienende Weikersheimer Juden in den Blick. Marx Antschel, der 1761 zum „Hofjuden“ ernannte erste gräfliche Hoffaktor, leistete Wesentliches für Hof und Ort. Ezechiel Pfeiffer hoffte, das Bezirksrabbinat Weikersheim als „württembergisches Jerusalem“ zu erleben. Rund 40 Prozent des Kapitals für wohltätige Stiftungen stellten jüdische Bürger, erinnerte Behr. Die Stolpersteine seien auch für die Kirchen wichtige Mahnmale, so Dekanin Renate Meixner, denn gerade die evangelischen Christen hätten der menschenverachtenden Ideologie nicht widerstanden, wie unter anderem Behrs Analyse der Wahldaten dieser Jahre belegt. Auch Pfarrer wie Stadtpfarrer Seifert unterstützten den Nationalsozialismus. Es gab auch andere, etwa Seiferts Nachfolger Häußler. Mit Kirchenchor und Gemeinde sang er in christlichen Weihnachtsliedern lautstark gegen den Hitlerjugend-Chor an, der auf dem Marktplatz NS-Weihnachtslieder schmetterte. Monica Meyer dankte als Nachfahrin von Familie Wolfsheimer für die späte Erinnerung. Als einst zweitgrößten Steuerzahler der Stadt hatten Schüler den Großhandelsbetrieb der Familie vorgestellt und vom Glück der Geschäftsreise Max Wolfheimers ins Elsass berichtet, die ihn vor dem SA-Märzpogrom im Jahr 1933 bewahrte. Über Umwege gelang der Familie die Auswanderung in die USA. Noch seien Gräber etlicher ihrer Vorfahren auf dem hiesigen jüdischen Friedhof zu finden, berichtete Monica Meyer. Hoffnung gibt ihr, dass es den Nazis letztlich eben doch nicht gelungen sei, die Welt in ihrem Sinn dauerhaft zu verändern.
Auch David Rabinowitch, Nachfahre der gegenüber des Wolfsheimer-Hauses ansässigen Familie Selz, verwies in seiner von Rolf Mailänder verlesenen Rede auf Gräber von zehn auf dem jüdischen Friedhof beigesetzten Angehörigen: „Die Wurzeln der Familie Selz liegen auch heute noch tief in der Weikersheimer Erde.“ Seine dem von Ferdinand Selz geführten Textil-, Schuh- und Kurzwarenkaufhaus am Friedrichsbogen entstammende Mutter Irma Rabinowitch war die erste Weikersheimerin mit abgeschlossenem Medizinstudium. Rabinowitchs Großvater und sein Onkel gehörten zu den überlebenden Opfern des Märzpogroms von 1933. Die Familie erkannte die Gefahr und verließ das Land.
„Bleierne Schwere“
Als Nachkriegskind erlebte Rolf Mailänder die viele Jahre spürbare „bleierne Schwere über der Stadt“ – und auch den eigentlich friedlich-unscheinbaren Nachbarn „Hitler-Schorsch“ mit seinen Knobelbechern. Harmlos? Mitnichten: Genau er war für die „Judenaktion“ 1933 verantwortlich gewesen, genau er hatte den Galgen gezimmert, an dem der Zwangsarbeiter Galus wegen sogenannter „Rassenschande“ aufgehängt wurde.
Günter Breitenbacher, Mitglied der Projektgruppe, recherchierte akribisch etliche der 16 Lebenswege, die auch auf der Homepage der Stadt zu finden sind. Er wolle damit den ehemaligen Einwohnern „ein Gesicht geben“. Bleibt zu hoffen, dass die durch die kleinen Messing-Denkmale auf den Bürgersteigen erfolgte Wieder-Beheimatung künftige Generationen zur Wachsamkeit gegenüber Ideologien und Rassismus mahnen – ein gerade heute hochaktuelles Anliegen.
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