Tauberbischofsheim. Der 29. November, an dem der Landtag von Baden-Württemberg dem „Erprobungsparagrafen“ für Kindertagesstätten mehrheitlich zustimmte, brachte das Fass bei Heidi Stumpf zum Überlaufen. 43 Jahre hatte sie als Erzieherin gearbeitet, war in Königshofen, Külsheim und Schönfeld im Einsatz, bevor sie an die Kita St. Martin Tauberbischofsheim wechselte und nach kurzer Zeit in die Leitung einstieg.
„Obwohl ich selbst nie einen Kindergarten besuchte, weil es bei uns keinen gab, wusste ich schon mit sechs Jahren, dass ich einmal mit Kindern arbeiten möchte“, erzählt sie im Gespräch mit den FN. Heidi Stumpf stammt aus einem Dorf bei Weiden in der Oberpfalz und erinnert sich gerne an ihre Kindheit dort: „Wir spielten viel draußen, bauten gerne Staudämme und hatten einfach großen Spaß.“
Jetzt ist sie 63 und „nicht mehr dabei, aber noch mittendrin“, wie sie sagt. Was sie hört und mitbekommt aus den Kitas, was sie selbst erlebt hat, macht sie traurig. Natürlich weiß sie auch, dass früher nicht alles besser war – doch bezogen auf die Kindergartenlandschaft treffe das ihrer Meinung nach zu.
Bewerbungen für den Beruf des Erziehers sind selten geworden
„Als ich mich 1984 um eine Stelle als Erzieherin bewarb, war ich eine von 16 Kandidatinnen. Heute bekommt man kaum noch eine Bewerbung auf eine Stelle.“ Die Gesellschaft, findet die 63-Jährige, habe sich verändert – und zwar nicht unbedingt zum Besseren. Die Zeiten, in denen Kinder über Mittag nach Hause gingen, um dort mit der Familie zu essen und sich etwas auszuruhen, seien längst vorbei. „Damals“, erinnert sich Heidi Stumpf, „kamen selbständige Kinder zu uns, die zum Beispiel ihre Schuhe schon an- und ausziehen und ihre Jacke aufhängen konnten.“ Doch die Nachfrage nach einer Ganztagsbetreuung wuchs, weil beide Elternteile arbeiten und die Großeltern unter Umständen noch einer Tätigkeit nachgehen, weil die Rente nicht ausreicht. Die Kitas reagierten auf diese neue Situation, richteten Gruppen mit verlängerten Öffnungszeiten, Ganztagsbetreuung und Kinderkrippen ein.
„Gesellschaft hat sich verändert“
Heute dagegen, meint Heidi Stumpf, seien Kinder viel unselbständiger, bräuchten bei eigentlich selbstverständlichen Dingen noch Hilfe und immer öfter sogar noch eine Windel. Sie hat Verständnis für die Situation der Eltern und den Druck, unter dem viele stehen: „Unsere Gesellschaft hat sich einfach verändert. Eltern haben heute nicht mehr die familiäre Unterstützung wie in früheren Zeiten.“ Gerade auch die Eltern treffe die Situation des Personalmangels sehr hart. Oftmals sei man in den Kitas gezwungen, mit Notgruppen oder verkürzten Öffnungszeiten zu arbeiten. Eltern seien dann gezwungen, kurzfristig Urlaub zu beantragen und die Kinder selbst zu betreuen. „Den Unmut“, weiß sie, „bekommen dann die Erzieher an der Basis zu spüren“.
Hinzu kämen Kinder aus anderen Kulturkreisen, die oftmals auch traumatisiert seien und denen man ein Stück Normalität und Geborgenheit schenken möchte. „Früher hatten wir wenige Kinder, die kein Deutsch sprachen. Heute ist es umgekehrt.“ In den Kitas, betont sie, seien alle Kinder gleich. „Jedes Kind wird bei uns aufgenommen. Aber wir müssen uns auch dieser veränderten Situation anpassen.“ Erschwerend komme jedoch hinzu, dass auch die Eltern dieser Kinder oft noch kein Deutsch sprechen. „Deshalb muss vieles visualisiert werden. Wir zeigen zum Beispiel Bilder von Brotdosen oder Taschen, damit sie überhaupt wissen, was sie ihrem Kind mitgeben müssen.“
Kommune entscheidet, wie viele Kinder in einer Gruppe aufgenommen werden
Das alles, weiß Heidi Stumpf, koste Zeit und Kraft. „Und dann“, ärgert sie sich, „sagt die Politik an diesem 29. November, wir führen jetzt mal den Erprobungsparagrafen ein. Die Kommune entscheidet also, wie viele Kinder in einer Gruppe aufgenommen werden, und wir haben dann vielleicht 30 statt 25 Kinder und möglicherweise keine zwei Fachkräfte mehr, sondern nur noch eine, und dazu eine Hilfskraft. Wie soll eine einzige Fachkraft all diese Aufgaben erfüllen können? Zusätzlich zur Aufsichtspflicht, Erziehung und Bildung müssen ja auch Dokumentationen und Berichte geschrieben und Elterngespräche geführt werden.“
„Lückenfüller spielen Feuerwehr“
Und, so ihre Erfahrung: Wenn Erzieher krankheitsbedingt länger ausfallen, dann gebe es keine Vertretungskräfte oder eben „nur“ eine Kraft, die als Lückenfüllerin in den gesamten Kinder-Tageseinrichtungen hin- und her springe und Feuerwehr spiele. Sie weiß auch von Fällen, bei denen eine Teilzeit-Fachkraft all das leisten musste, was eine Vollzeitkraft zu tun hat. Vor Jahren, meint sie, habe man einen Bildungsplan ins Leben gerufen, „obwohl es in den Kitas schon immer Bildung gab.“ In die Erarbeitung dieses Plans und in die Qualifizierung der Erzieher seien Millionenbeträge geflossen, doch könne man kaum etwas davon umsetzen, „weil es einfach nicht geht, weil das Fachpersonal fehlt“. Und an diesem Fachpersonal mangele es ihrer Meinung nach in allen sozialen Berufen. Auch die Kinderarmut belastet sie: „Ich habe selbst einmal erlebt, wie ein Kind, das abgeholt wurde, seine Mutter fragte, ob es ein Eis essen darf. Die Mutter antwortete: Das geht nicht, wir müssen heute Brot kaufen.“
Sie ärgert sich über die Bertelsmann-Stiftung, die ihrer Meinung nach mit verfälschten Statistiken arbeite: „In dem angeblich so tollen Personalschlüssel von Baden-Württembergs Kitas sind die Tagesmütter mit eingerechnet, die nur wenige Kinder betreuen. Die Realität zeigt aber, dass in den Kitas zu den Kernzeiten zwei Fachkräfte für 25 Kinder zur Verfügung stehen. In der Kinderkrippe sind es zwei Kräfte für zehn Kinder.“ Müsse ein Kind aber gewickelt oder umgezogen werden, sei die zweite Fachkraft mit den anderen Kindern alleine, das verhalte sich beim Turnen oder bei Kleingruppenarbeiten genauso.
Heidi Stumpfs Fazit: „Man macht die Erzieher, die es noch gibt, vollends kaputt, anstatt dass man die Rahmenbedingungen verbessert, damit die Leute, die noch da sind, bleiben und nicht abwandern.“
Kitas: Lösungsvorschläge gegen den Fachkräftemangel
Sie klagt aber nicht nur an, sondern macht auch Lösungsvorschläge. Sie wünscht sich Quereinsteiger als Zusatzkräfte, sowie Hauswirtschafts- und Verwaltungspersonal, um die Erzieher zu entlasten. Dazu Sprachförderkräfte, die die das vorhandene Personal unterstützen und den Kindern die deutsche Sprache näherbringen. Ein Dolmetscherpool wäre ihrer Meinung nach immens wichtig. Sie fände es außerdem sinnvoll, Fachpersonal aus anderen Ländern und Kulturen erst nach einer Bewährungszeit anzuerkennen. Last but not least tritt sie für eine angemessene Bezahlung ein – mit dem jetzigen Erziehergehalt könne man keine Familie ernähren.
Doch noch etwas belastet sie, denn auch die Rahmenbedingungen für die so wichtige Inklusion seien nicht die allerbesten: Der Weg zu einer speziellen Fachkraft für das Kind sei für viele Eltern zu schwer, viele wollten eine Sonderbehandlung ihres Kindes erst gar nicht – und dann sei die Erzieherin schlichtweg machtlos. Zudem sei eine solche Fachkraft dann zwei bis vier Stunden pro Woche da, was dem berühmten Tropfen auf dem heißen Stein gleiche. Deshalb fordert Heidi Stumpf auch eine Anpassung der Finanzierung dieser Kräfte, die jedoch seit Jahren nicht mehr erfolgt sei. Außerdem stellt sie sich die Frage, warum man in den Bundesländern keine einheitliche Ausbildung anstrebe. In Bayern seien zum Beispiel zwei Vorpraktikumsjahre verpflichtend – für beide Seiten eine Win-Win-Situation.
„Es ist einfach fürchterlich“
Sie sagt: „Unter den jetzigen Bedingungen können Kinder nicht optimal gefördert werden. Die Erzieher haben einfach nicht die nötige Zeit dafür. Das macht mich sehr betroffen, denn ich fühle mich mit dem Kita-Personal immer noch sehr verbunden. Was aus der Kindergartenlandschaft geworden ist, ist einfach fürchterlich. Es heißt immer so schön, dass die Kinder unsere Zukunft seien. Doch wo wird denn in sie investiert? Wo ist denn die viel beschworene Familienfreundlichkeit? Und dann wundert man sich noch, dass Deutschland in der Pisa-Studie so schlecht abschneidet. Ich wünsche mir, dass das Personal in den Kitas wieder Freude an diesem eigentlich so wunderbaren Beruf haben kann. So kann und darf es jedenfalls nicht weitergehen.“
Deshalb hat die Tauberbischofsheimerin auch einen besonderen Weihnachtswunsch: Die Verantwortlichen in der Politik sollten zum Hospitieren in die Kitas kommen. „Dann wissen sie auch, wovon sie reden, können vernünftige Entscheidungen zum Wohle der Betroffenen fällen und die Verantwortung für diese Misere nicht den Kommunen, Trägern und Erziehern anlasten.“
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