Pfitzingen. Deutschlands einziger staatlicher Schulbauernhof ist ein Erfolgsmodell – seit drei Jahrzehnten. Während in anderen Bundesländern Schulbauernhöfe, ähnlich wie Jugendherbergen, privatwirtschaftlich geführt werden, geht Baden-Württemberg seinen eigenen Weg. Einen Einblick in den Alltag des Schulbauernhofs gibt es beim Dorffest am Sonntag, 6. Juni ab 14 Uhr bei einemTag der offenen Stalltür.
Die Nachfrage nach dem meist fünftägigen Aufenthalt im Schulbauernhof ist groß. 32 Betten bietet das Haus. Allein für 2022 mußte Schulleiter Thomas Löhr bereits 30 Klassen absagen. „Üblicherweise sind wir ein Jahr voraus ausgebucht“.
Die Idee, einen Schulbauernhof einzurichten, entstand an einer baden-württembergischen Hauptschule. Dort erkannte ein Lehrer die Bedeutung der Mitarbeit auf landwirtschaftlichen Betrieben für seine Schüler und sammelte erste Erfahrungen. Im Kultusministerium stieß sein Engagement auf Interesse. Auch der Landtag von Baden-Württemberg war von der Idee begeistert und stimmte dem Vorhaben zu. Das Landesparlament stattete das Projekt mit den nötigen Betriebs- und Personalkosten aus.
Zuschlag für Niederstetten
Die Suche nach einem Standort begann. Das Projekt wurde landesweit ausgeschrieben. Die Stadt Niederstetten unter ihrem damaligen Bürgermeister Kurt Finkenberger bot in dem heute 134 Einwohner zählenden Pfitzingen nicht nur einen reizvollen Standort. Nein, Finkenberger lieferte gleich das passende Konzept: Das ehemalige Jagdschloß der Weikersheimer Grafen aus dem Jahr 1605 war in städtischem Besitz und nach seiner Modernisierung als Wohn- und Küchengebäude nutzbar. Der angrenzende Bauernhof bot Scheunen, Ställe und Wohnraum für den Schulleiter. Das überzeugte in Stuttgart. Im April 1992 ging der Schulbauernhof Pfitzingen in Betrieb. Würde er streng wirtschaftlich geführt, müsste das Land pro Kind und Tag heute statt 15 etwa 130 Euro Eigenanteil kassieren, hat der derzeitige Schulleiter Löhr errechnet.
Der Grund- und Hauptschullehrer bewarb sich 2019 auf die Stelle. Er stammt aus Wachbach, wollte wie seine Frau Melanie nie weg aus der Region. Löhr leitet den 20 Hektar-Betrieb. Er ist stolz auf seine motivierten und erfahrenen Mitarbeiter in Haus und Hof. Fünf Hauswirtschafterinnen, drei Landwirte und ein Hausmeister gehören zur Stammbesetzung. Dazu kommen in diesem Jahr noch zwei Deutsche und zwei Franzosen, die in Pfitzingen ihr freiwilliges ökologisches Jahr leisten.
Jedes Jahr reisen hunderte Schülerinnen und Schüler aus dem ganzen Land nach Hohenlohe. Alle fünf Tage (das ist der Regelaufenthalt) wechseln die Gäste. Manche Klassen bleiben zwölf Tage, was die Eindrücke und Erfahrungen der Gruppe natürlich vertieft. Das Gros stellen die Großstadtkinder. Bei ihrer Ankunft sind sie in Sachen Landleben und Landwirtschaft „völlig unbeschriebene Blätter“, beschreibt es Schulbauernhof-Chef Thomas Löhr. Allen erleben einen „Kulturschock“ bei der Ankunft. Landluft. Fremde Gerüche. Gebäude wie aus dem Geschichtsunterricht. Knarrende Holzböden, hohe Decken. Das Essen kräftig und deftig. Hausmannskost, selbst zubereitet. Im Haus Internet, draußen Fehlanzeige. Die Ruhe ist fast greifbar.
Die Kinder „entschleunigen“
„Bei der Ankunft montags sind die Schülerinnen und Schüler sehr aufgedreht. Am Dienstag noch aufgedreht und spätestens am Mittwoch ausgepowert“, weiß Thomas Löhr aus Erfahrung. Nach wenigen Tagen sind die Drehzahlen runter, die Kinder „entschleunigen“. Nicht ohne Grund: Die „Stallgruppe“ zum Beispiel muss um 6.30 Uhr bei den Tieren sein. Ohne Frühstück. Denn das muss im Haus noch fast zeitgleich vom Küchentrupp vorbereitet werden. Um 8.30 ist gemeinsames Frühstück. Dann geht es für die Gruppen wieder an die Arbeit. Zwei Stunden Mittagspause sind im Plan, eine kurze Kuchenpause am Nachmittag. Gegen 18 Uhr ist Feierabend. Die Arbeit ruht bis zum nächsten Morgen.
Der Schulbauernhof ist, das ist so gewollt, technisch auf dem Stand der siebziger Jahre. Der Maschinen- und Fuhrpark, die Haushaltsgeräte und die Werkzeuge erleichtern zwar die Arbeit, verlangen aber noch viel körperlichen Einsatz – im Stall, auf der Weide, im Wald, im Garten und in der Küche. Alle Arbeit wird zusammen mit den jungen Gästen erledigt. Die merken rasch, dass eine Kuh Muh, viele Kühe aber Mühe machen. Fünf Milchkühe, drei Ochsen, sieben Ziegen, fünf Schafe, ein Pferd, dreißig Hühner, zehn Kaninchen, neun Katzen und zwei Hunde wollen versorgt und gepflegt werden. Kartoffeln werden per Hand gelesen. Das Obst muß gepflückt, Saft gekeltert, Marmelade gekocht, eigenes Gemüse und Gartenkräuter geerntet werden. Teig wird zubereitet, Brot wird gebacken, Joghurt, Quark, Käse und Butter werden auf dem Hof produziert.
Langeweile kommt nie auf
Der Betrieb versorgt sich selbst. „Die Qualität des Essens ist unfassbar gut“, lobt Löhr die Arbeit der Küchenbrigade und ihrer jungen Helfer. Die müssen auch Tische decken und abräumen, Geschirr spülen und abtrocknen. Die „Outdoor-Gruppen“ erledigen die Stallarbeit, bringen das Vieh auf die Weide, sägen, spalten und schichten Feuerholz, reparieren Zäune, warten unter Anleitung die Maschinen.
Manche tun sich schwer bei der Arbeit, haben Defizite in ihrer Motorik, anderen mangelt es an Kraft und Geschicklichkeit. Eins aber hat fast niemand, egal zu welcher Jahreszeit: Langeweile. „Das garantieren wir“, sagen Löhr und sein Team. Die Abwechslung, die neuen Herausforderungen, die vielen Erlebnisse und Eindrücke sind wohl auch der Grund, warum kaum Heimweh entsteht. Manche Eltern wundern sich, dass ihr Sprößling sich nicht täglich meldet. Und greifen deshalb irgendwann selbst zum Telefon.
Wertvolle Erfahrungen
„Kinder haben Spaß an der Verantwortung, sie entdecken hier ihre Stärken und Fähigkeiten“, weiß der 38-jährige Pädagoge. Auch Lehrer dürfen, ja sollen sich in den Alltag in Pfitzingen einbringen. Gemeinsames Erleben, gemeinsamer Erfolg, aber auch Scheitern verbindet. Ein Realschüler beschrieb es so: „Viele von uns reisten schweren Herzens ab. Es war eine tolle Zeit, in der wir viel über die Landwirtschaft und uns gegenseitig gelernt haben. Wir danken dem gesamten Schulbauernhof-Team und unseren Lehrern für diese vielen wertvollen Erfahrungen“.
Lehrer berichten, dass manche Schüler beim Aufenthalt ihre Ängste und Vorbehalte verlieren. Sie gewinnen Selbstvertrauen, nehmen sich und ihre Mitschüler und Mitschülerinnen anders wahr. Sie sammeln Erfahrungen in Küche, Stall, Feld und Wald, müssen sich selbst motivieren, sich mit anderen abstimmen. „Der Aufenthalt macht etwas mit den Kindern“, spürt auch Löhr.
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