Niederstetten. Vom Schimmelturm leuchten die Sterne, zwischen Marktbuden tummeln sich Menschen, und nicht nur vorm Rathaus prangt ein stattlicher Christbaum. Ach, könnte man sich doch mal für ein paar Minuten schrumpfen! Wetten, dass einem in den Gassen der Duft von heißem Punsch und Glühwein, von Leb- und Reibekuchen in die Nase stiege, dass einem Spezereien, Christbaumschmuck und überhaupt die ganze Weihnachtsvielfalt vom Feinsten geboten würde? Nun gut: das Schrumpfen klappt nicht, zurück auf Start und Staunen. Eine komplette Scheunenetage nimmt das Mini-Niederstetten ein, zu dem Walter Frank in den vergangenen Jahrzehnten seine Modellbahn ausgebaut hat.
Immer informiert sein
Jahrgang 1940 ist der Bastler, Modellbahnfan und Heimatliebhaber Walter Frank. Sein Alter sieht man ihm nicht an, schon gar nicht, wenn er einem mit burschenhafter Begeisterung sein Alt-Niederstetten im Kleinformat vorstellt. Manches Haus, manchen Turm hat er doppelt gebastelt, wenn er mit der ersten Version nach erneutem genauen Blick aufs große Original dann doch nicht gänzlich zufrieden war. Alte Fotos zog er zu Rate, Kennern der Heimatgeschichte entlockte er in Gesprächen manch weiterführende Information.
Entstanden ist in jahrzehntelanger Aufbauarbeit ein immenses Niederstetten-Diorama, das etwa den Heimatgeschichtler Walter Krüger immer wieder staunen lässt. Vom Schloss samt Schlossberg und Tunnel, durch den die Dampflok zockelt, über Bahnhof, Ferkelmarkt und Tempele bis hin zum Banner am Eingang zu Niederstettens „Märchenhaften Weihnachtsmarkt“: Was Niederstetten ausmacht, ist hier zu entdecken. Dabei ist beinah alles Marke Eigenbau. Aus den dünnen Schälbrettchen von Orangenkistchen, Pappdeckeln, Gips und Papier hat Walter Frank Klein-Niederstetten nachgebaut. Fitzelfein und farbtreu hat er die Anstriche aufgebracht, die Häuser mit den perfekten Fenstersimsen, Türstürzen, und Balkonen ausgestattet, Treppchen und Stüfchen fein platziert, ganze Straßenzüge nachmodelliert. Dabei ging es ihm mehr um die Liebe zur Heimat als um mathematische 1:87-Präzision oder die hundertprozentige Übertragung des Stadtplans. Dann hätte längst nicht so viel auf die Anlage gepasst, die nicht nur Niederstetten portraitiert, sondern bis weit ins Vorbach- und Taubertal reicht und unter anderem auch dem Weikersheimer Gänsturm ein Kleindenkmal setzt.
Recht dicht gedrängt sind die Kirchen der Teilorte zu entdecken, und die Anlage gedenkt nicht nur verlorener oder teilweise verlorener Stadttürme – der Geisturm in der Erbsengasse feiert hier fröhliche Urständ –, sondern auch niedergegangener Industriekultur. Mit unendlicher Liebe zum Detail hat er manche Szene gestaltet, so dass es einen in den Fingern juckt, den Mini-Menschlein herzlich zuzuwinken. Im Schlosshof scheint noch Herr Künstler unterwegs zu sein, und in der Erbsengasse trifft man den Erbauer der Anlage persönlich, in jungen Jahren, und auf dem Holder-Einachser, der einst das Kuhgespann ersetzte. Bis heute wohnt Frank in seinem an und in die Stadtmauer gebauten Elternhaus, das der Vater dem jüdischen Mitbürger Jakob Neu abkaufen konnte. Das war noch vor der Vertreibung jüdischer Bürger, erzählt er, ein echter Verkauf.
Eine Tafel im Wohnzimmer erinnert an den 1948 nach Auschwitz verschleppen Vorbesitzer des uralten Kernstadt-Hauses, in das auch der Geisturmstumpf mit seinen meterdicken Mauern eingewachsen ist. Mit Recht stolz ist der Senior darauf, dass er es schaffte, den Kindern aus erster Ehe die Heimat zu erhalten, nachdem seine Frau jung verstorben war. Für den ältesten Sohn hatte er erste Gleise gelegt, einen Eisenbahntunnel gebaut. Aus dem wurde schon ein Jahr später der Schlossbergtunnel samt Schloss Haltenbergstetten.
Da hat er sicher ein wenig nachgeholt, was ihm als Kind selbst nicht vergönnt war. War halt so, sagt er. Vier Geschwister waren sie im Elternhaus, als Großer musste er früh in der Landwirtschaft auf den weit verstreuten Pachtstücken mit anpacken. Ende der 50er Jahre hatte er schon mal aus eigenem Verdienst seinen erst nach dem Krieg geborenen Brüdern eine kleine Eisenbahn gekauft.
Dass sein Niederstetten-Modell nicht nur privat für Freude sorgte, ist dem Heimatverein zu verdanken: Der lud im 1985 gegründeten Heimatmuseum 1989 zur Ausstellung „Ein Blick in Urgroßmutters Weihnachtsstube“ ein. Da konnten viele Besucher erstmals einen Blick auf die Anlage werfen.
Händchen fürs Handwerkliche
Die begeisterte auch Willi und Ruth Brumm, die ihren Alterssitz nach Niederstetten verlegt hatten. „Weiter bauen“, drängte das Paar erfolgreich. Und fast ein Jahrzehnt lang ließen Walter Franks Niederstetten-Nachschöpfungen zur Weihnachtszeit nicht nur Kinderaugen im Heimatmuseum leuchten. 1999 wurde das Museum als baufällig geschlossen – und die Eisenbahn zog final ins „Privatmuseum“ in die Erbsengasse um. „Dann hat die Narretei da oben angefangen,“ kommentiert der Senior-Modellbauer trocken. Und es sei ja auch ein schöner Zeitvertreib, ganz anders als Fernsehen... Ehefrau Christel, mit der er seit inzwischen vier Jahrzehnten (Glückwunsch!) verheiratet ist, trägt „die Narretei“ mit Fassung.
Das Händchen für Handwerkliches hatte Walter Frank schon als Kind. Nur zu gern wäre er nach seinen siebeneinhalb Schuljahren Elektriker oder Landmaschinentechniker geworden. Doch die Familie brauchte die zupackende Hilfe. Da karrte Walter Frank etwa als Bauhelfer Steine in Schubkarren mit eisenbeschlagenen Rädern, schleppte Mörteleimer Holzleitern hoch und klopfte mit Hammer und Meißel Schlitze für Stromleitungen. Als Geldbote war er ebenso verlässlich im Einsatz wie als Elektriker- und Schlossereigehilfe. Ein paar Monate war er auf Lastschiffen auf Rhein und Main unterwegs, viele Jahre „beim Hachtel“ und bis zur Rente beim Diamantwerkzeughersteller Wendt.
„Man lernt überall“, sagt er, und fädelt im Wohnzimmer auf seiner „Versuchsanlage“ einen selbst gebauten Zug auf die Gleise. Ob der während der Feiertage auf die große Anlage umziehen darf? Abwarten. Und: Frohe Weihnachten!
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/orte/niederstetten_artikel,-niederstetten-niederstetten-strahlt-im-lilliput-format-_arid,1890730.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.fnweb.de/orte/niederstetten.html