Manfred Wittenstein im Porträt - Igersheimer Unternehmer über den Umgang mit Trends, Begegnungskultur, Krisen und die notwendigen Veränderungen

Zukunft muss menschlich gedacht werden

Von 
Michael Weber-Schwarz
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(Kreative) Zerstörung als Leitidee, damit Entwicklung und Neuordnung stattfinden können: Manfred Wittenstein vor Foto-Kunst von Michael Najjar. © Wittenstein SE/Joachim Schmeisser

Wach bleiben und bereit zur Veränderung. Authentisch sein. Den Tunnelblick vermeiden. – Das ist die Haltung von Manfred Wittenstein. Der Unternehmer sieht Krisen als (notwendige) Chance.

Igersheim. Über Jahrzehnte hinweg hat Manfred Wittenstein aus dem Taubertal heraus ein Unternehmen aufgebaut, das sich seit den 1990er Jahren auch weltweit positioniert. Aus dem operativen Geschäft hat sich Wittenstein vor einigen Jahren zurückgezogen. Er wechselte in den Aufsichtsrat der Unternehmensgruppe, dem er seit 2014 als Vorsitzender angehört.

Mit dem Start einer neuen Veranstaltungsreihe „Enter the Future“ hat Wittenstein unlängst aus der Weikersheimer Tauberphilharmonie seine Botschaft, seine Denkanregungen, expertengestützt versandt: Veränderung, Entwicklung, muss immanent sein und positiv besetzt. Zukunft muss menschlich gedacht werden und Innovation soll – möglichst vielen – Menschen nützen.

Manfred Wittenstein sitzt vor einer Reihe Druckgrafiken: der spanische Surrealist Salvador Dali hat Motive aus Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“ umgesetzt – 2014 waren die Bilder im Bad Mergentheimer Schloss zu sehen. Das singuläre, ungeheuerliche, epochale Literatur-Werk des Florentiners führt durch Hölle und Fegefeuer am Ende ins Paradies. Ein Layer für Unternehmen, für Gesellschaft, für den Umgang mit Krisen?

„Wir haben in der Region eine sehr gute Struktur mit Banken und Unternehmen“, sagt Wittenstein. Er sei sich sicher, dass die Pandemie hier quasi durchgearbeitet werden könne. Firmen mit ihren Arbeitnehmern seien keine potenziellen Gefahrenquellen – es werde in den Unternehmen alles getan, um Infektionen zu vermeiden.

Wittenstein rechnet für seine Maschinenbau-Branche auch nicht mit wirtschaftlichen Katastrophen infolge der Pandemie. Er sehe aber die Entwicklung in anderen Branchen mit Sorge: Einzelhandel, Tourismus, Gastronomie – „hier sind deutliche Veränderungen im Gange“. In vielen Fällen betreffe dies auch unmittelbar die Innenstädte: „Hier müssen wir aufpassen, dass unsere Städte nicht kaputt gehen“. Einzelhandel bestenfalls an der Peripherie: „Das ist keine Lösung“, denn Städte lebten von einer breiten „Kultur der Begegnung“. Alle Kommunen seien gefordert, nicht „sorglos zu modernisieren“ und vermeintlichen Trends zu folgen.

Für das Überleben der Städte als soziales System sei es wichtig, dass man dort Authentizität erleben könne. Echtheit also im Sinne eines Originalen, Einzigartigen. Gleichmacherei nach einem imaginären Stylebook hält Wittenstein mindestens für „schade“. Corona verstärke solche vielerorts beobachtbaren Egalisierungsprozesse. „Wir müssen uns aber dem Vertrauten widmen“, sagt Wittenstein. Die Reihe „Enter the Future“ stehe deshalb auch unter der Leitfrage „Was macht uns aus?“

Was für Städte gelte, gilt auch für ansässige Firmen, denn „wir sind ja Teil des eigenen Umfelds.“ Trotz Ja zu globalen Märkten: Identität vermittle sich beispielsweise durch die Verwendung regionaltypischer Baustoffe wie Muschelkalk bei Firmenbauten. Auch wenn es entsprechendes Baumaterial in China vielleicht sogar günstiger gebe: „Die Dinge müssen zwar wirtschaftlich sein, doch es geht auch um eine örtliche Stimmigkeit, um Wohlbefinden, um Ästhetik.“ Nur durch eine Verwurzelung im Regionalen könne man als Unternehmer glaubwürdig zeigen: „Ich bin Bürger dieses Landes“ und andere Menschen „mitnehmen“.

Soziale Marktwirtschaft: Manfred Wittenstein sieht sie als komplexen, dynamischen Prozess. Das Schaffen von Arbeitsplätzen, die wirtschaftliche Orientierung eines Unternehmens ist dabei die eine Säule – die Verantwortung und das Wohl der Mitarbeiter die andere. „Dazu gehört auch die Wertschätzung des jeweils anderen – und das Miteinander-im-Gespräch-Bleiben.“

Dass auch Wittenstein einmal klein angefangen hat, hat der Unternehmer nicht vergessen: „Wir haben damals die Unterstützung der Kommune erhalten“. Da sei es klar, dass man seine Ideen (auch) zum Nutzen der Kommunen einsetze. Es sei stets wichtig zu erkennen und zu verstehen, was für diese wichtig ist. Dennoch seien die Kompetenzbereiche deutlich zu trennen.

Eine Kommune (oder auch ein Staat) und deren Vertreter geben die politische Richtung vor – „jeder muss in dem komplexen Zusammenspiel seine Verantwortung übernehmen. Unsere als Unternehmen fängt in unserem unmittelbaren Umfeld an.“

Manfred Wittenstein denkt vom moralischen Anthropozentrismus her: „Firmen leben in einer Gesellschaft“, sie sind der Ausdruck einer sozialen „Vereinbarung“: Ökologie etwa erhält die menschliche Lebensgrundlage und fordert deshalb (auch vom Unternehmer) eine ethische Haltung. Wohl deshalb hatte Wittenstein einen Vertreter des Bosch-Konzerns zum Auftakt von „Enter the Future“ geladen. Bosch stellt seine über 400 Standorte weltweit CO2-neutral (Produktion und Verwaltung). „Das ist das Ergebnis einer langen Entwicklung“, sagt Wittenstein und darauf komme es an: „langfristige Ideen entwickeln und dem Thema folgen.“ Nur mit Wissen, Ideen und Visionen werde sich das Denken verändern. Wer mit Tunnelblick an gesellschaftlichen Entwicklungen vorbei agiere, werde sich letztlich auf einem Abstellgleis wiederfinden. Ein Faktor wie die Ökologie summiere sich idealerweise als „Produkteigenschaft“ auf – Nachhaltigkeit als (ein) Entscheidungskriterium für den Kunden. Auch „Soziales“ könne man als Element des Produkts begreifen. Klare Absage erteilt Wittenstein Luftnummern: „Der Nutzen muss sich immer sinnvoll belegen lassen“ – es geht um Wahrhaftigkeit.

Den Tunnel, die „Pfadabhängigkeit“, gilt es für Wittenstein zu vermeiden: Dafür bildet für ihn das Modell der Schöpferischen Zerstörung (englisch: „creative destruction“) eine wichtige Grundlage. Der Begriff aus der Makroökonomie meint: Jede ökonomische Entwicklung (nicht bloß quantitativ gesehen) baut auf dem Prozess der Zerstörung, einer Art induzierten Krise auf. Durch Neukombinationen von Produktionsfaktoren, die sich durchsetzen, werden alte Strukturen (oder Produkte) verdrängt und schließlich zerstört. Zerstörung ist also notwendig (und kein Systemfehler), damit Neuordnung stattfinden kann. Daher die stetige Aufforderung Manfred Wittensteins an Mitarbeiter: „Es anders machen als bisher – jeder kann ein Innovator sein.“

Vielfalt als Teil der Kultur

Mit seinem Engagement für die Weikersheimer Tauberphilharmonie schließt sich für Wittenstein ein Kreis: Er denkt in „Elementen unseres Lebens“, in „Vielfalt als Teil unserer Kultur.“ Zum wichtigen, identitätsstiftenden Berufsleben kommen noch andere Elemente hinzu, die den Menschen ausmachen. Er ist ein homo ludens, ein „Spieler“, der sich zugleich am Spiel, an Kultur erfreut. Und über diesem Spiel wird er, im Schillerschen Sinne, „ganz“ in seinen Fähigkeiten.

„Wir brauchen Höhepunkte, wir dürfen auch zeigen, wie gut wir sind – und wir müssen manchmal auch klappern“, zum Beispiel, wenn es für Unternehmen darum geht, sich für neue Mitarbeiter interessant zu machen oder der Abwanderung entgegenzusteuern. Identität, Sich-Wohlfühlen in einer Region, mache nicht vor Stadtgrenzen halt. Ein besonderer Bau wie das Weikersheimer Konzerthaus, das mit hohem architektonischen Anspruch als Teil eines Ensembles erbaut worden sei, „ist für mich ein schönes Beispiel für einen örtlichen Gemeinsinn, der in die ganze Region hinein wirkt.“

Zur Person Manfred Wittenstein

Dr.-Ing. E.h. Manfred Wittenstein (geboren 1942) ist Aufsichtsratsvorsitzender der „Wittenstein SE“. Die internationale Unternehmensgruppe entwickelt „kundenspezifische Produkte, Systeme und Lösungen für hochdynamische Positionierung und intelligente Vernetzung in der mechatronischen Antriebstechnik.“

Der gebürtige Berliner übernahm 1979 das elterliche Unternehmen und baute es als Vorstandsvorsitzender zu seiner heutigen Größe auf. Er ist verheiratet und hat vier Kinder.

Manfred Wittenstein ist seit vielen Jahren in unterschiedlichen Funktionen engagiert, u.a. von 2006 bis 2013 als Mitglied der Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft.

2007 wurde er für drei Jahre zum Präsidenten des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) gewählt. Bis 2011 hatte er das Amt des Vizepräsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) inne, bevor er Kuratoriumsmitglied der Gesellschaft zur Förderung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung wurde. Seit 2013 ist er Kuratoriumsmitglied des Max-Planck-Instituts für Innovation und Wettbewerb. Er gilt als Treiber des Themas Industrie 4.0/Digitalisierung.

Die Ehrendoktorwürde der Fakultät für Maschinenwesen der Technischen Universität München erhielt Wittenstein „in Anerkennung seiner außergewöhnlichen Leistungen und Ideen zu Forschung und Entwicklung innovativer Antriebssysteme und bei der zukunftsweisenden Unternehmensführung“ (2008).

Redaktion Im Einsatz für die Lokalausgabe Bad Mergentheim

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