Jüdisches Museum Creglingen

Alte christliche Vorurteile werden kritisch hinterfragt

Pfarrer Oliver Gußmann hielt Vortrag über „Das Neue Testament – jüdisch erklärt“

Von 
Inge Braune
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Pfarrer Oliver Gußmann stellte im Jüdischen Museum Creglingen die fast 1000 Seiten starke Studienausgabe „Das neue Testament – jüdisch erklärt“ vor. © Braune

Creglingen. Es sei, so der Rothenburger Pfarrer Oliver Gußmann, ein echter Paradigmenwechsel, für den die 84 jüdischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit ihrer zunächst (2017) in den USA erschienenen Auseinandersetzung mit dem Neuen Testament gesorgt hätten. Zwar habe es schon immer jüdische Forschungen zum Neuen Testament (NT) gegeben, noch nie aber einen Versuch, das gesamte NT aus jüdischer Sicht auf der Basis der heutiger Forschung zu kommentieren.

Zur Vorstellung der seit 2021 vorliegenden deutschen Übersetzung „Das Neue Testament – jüdisch erklärt“ hatte die Stiftung Jüdisches Museum ins Jüdische Museum Creglingen eingeladen. Zu schade, dass das Interesse an diesem Vortrag nicht größer war: nicht einmal zwei Dutzend Besucher fanden sich ein, vielleicht ganz einfach, weil der laue Sommerabend eher nach draußen lockte.

Es geht um nichts weniger als um eine Revision des teilweise bereits seit dem frühen Christentum verfälschten Jesus-Bildes. Die Basis der Auseinandersetzung der insgesamt 84 international anerkannten jüdischen Autorinnen und Autoren war die Lutherbibel – ein, da auch andere Übersetzungen vorliegen, möglicherweise zu kritisierender Aspekt, wie Gußmann erläuterte. Ein weiterer Kritikpunkt sei der mit 68 Euro hohe Preis der fast 1000 Seiten starken Studienausgabe. Der Einwand zieht, wo es um rein private Bücherschränke geht, nicht aber bei der von der Deutschen Bibelgesellschaft genannten Zielgruppe der Fachkenner und die speziell am jüdisch-christlichen Dialog interessierte Leserschaft. Fachliteratur ist nun einmal der oft recht kleinen Auflagen und großen Umfänge wegen kostspielig. Die Stiftungsvorsitzende Sabine Kutterolf-Ammon stellte den 50-jährigen promovierten Theologen und Lehrbeauftragten vor, der in Rothenburg als Touristenpfarrer Gäste betreut, vor. Den über 80 Autorinnen und Autoren, die das Neue Testament auf wissenschaftlicher Ebene kommentieren, in den historischen Kontext einordnen und in über 50 Essays erläutern, gehe es nicht um Missionierung, sondern um das Ausräumen alter christlicher Vorurteile, so Gußmann. Auch bei seinen Führungen in Rothenburg verweist er darauf, dass bereits den mittelalterlichen Kirchenbauern, Malern und Glaskünstlern die Verwurzelung des Christentums im jüdischen Glauben durchaus bewusst war. So finden sich auf Fenstergestaltungen und Gemälden etwa Darstellungen der dem jüdischen Ritus folgenden Beschneidung Jesu und vielfach werden Handelnde in mit jüdischen Lettern verbrämten Gewändern gezeigt.

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Doch trotz bekannter Wurzeln schlug die Abgrenzung zum Althergebrachten oft genug in Abwertung um – mit teilweise katastrophalen Folgen. So wurde etwa die Bergpredigt missverstanden als eine Art Abrechnung Jesu mit dem Judentum. Die jüdischen Wissenschaftler dagegen erläutern, dass es sich vielmehr um Erweiterungen des „Zauns um das Gesetz“ handle, also um eine Erweiterung der Kerngebote, um diesen Kern um so sicherer einhalten zu können. Für die Kommentierenden stellt sich das NT „durchgehend als Ausdruck der jüdischen Tradition“ dar: Sie lesen die erst nachösterlich aufgezeichneten Texte auch als Medien der Auseinandersetzung zwischen den vielfältigen und teilweise divergierenden Strömungen des damaligen Judentums. Sie ordnen ein in die Begrifflichkeit, Glaubens- und Lebenspraxis der damaligen Zeit, in der unterschiedliche jüdische Bewegungen aktiv waren und traditionsgemäß auch um Textauslegungen rangen.

So sei damals der Begriff Jude keineswegs nur eng religiös gefasst gewesen: Juden waren Judäer, Einwohner des Landes, nicht nur Thora-Gläubige. Das Autorenteam verweist auf zahlreiche Irrtümer der theologischen Lehre: Nicht richtig sei etwa die Gegenüberstellung eines vermeintlich alttestamentlichen harten Gesetzes zu einer gnädigen jesuanischen Verkündigung; ebenso irrig sei die Annahme, dass der jüdische Glaube einen unnahbaren Gott, der christliche hingegen einen nahbaren Vater verehre: „Abba“ – Papa, Vater – gab es bereits in den alten Schriften. Ebenso fehl gehe man in der Annahme, dass das Alte Testament und damit das Judentum unter anderem über die rituellen Reinheitsgebote der Frauenfeindlichkeit Vorschub leiste.

Wie wirkmächtig die Auseinandersetzung mit dem umfassenden Kommentar in der Fortführung des christlich-jüdischen Dialogs sein wird, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall, so Gußmann, komme die derzeit studierende Theologengeneration nicht um eine intensive Beschäftigung mit dem Werk herum.

Im Mai erschien bei der Deutschen Bibelgesellschaft übrigens bereits ein 300 Seiten starker Folgeband: In „Das Neue Testament jüdisch erklärt – in der Diskussion“ setzen sich zahlreiche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit den aufgeworfenen Fragen auseinander.

Bereits Wirkung gezeigt hat die Buchvorstellung auf die Veranstaltungsplanung der Stiftung Jüdisches Museum: Sabine Kutterolf-Ammon schlug vor, in eine Sonderführung „mit jüdischen Augen“ durch die Herrgottskirche anzubieten.

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