175 Jahre Burghardt-Gymnasium Buchen (Teil 4) - „Höllensturz“ der deutschen Geschichte machte auch vor BGB nicht Halt / Lehrer zum Frontdienst beordert

Schulgeschichte an Buchener Gymnasium geprägt vom Nationalsozialismus

Das Burghardt-Gymnasium feierte 2020 sein 175-jähriges Bestehen. Im November 1845 wurde die Schule eröffnet. Die Meilensteine der Schulgeschichte werden in einer Artikelserie beleuchtet.

Von 
Michael Kolbenschlag
Lesedauer: 
Buchener Abiturienten des Jahrgangs 1936 in HJ-Uniform. © Bezirksmuseum Buchen

Buchen. Der vierte Artikel der Schulgeschichte des Burghardt-Gymnasiums erzählt von der Geschichte der Schule zwischen 1933 und 1945, einer Zeit, die geprägt wurde vom Aufstieg des radikalen Nationalismus, der im massenmörderischen Programm Adolf Hitlers und der Nationalsozialisten seinen schrecklichen Gipfelpunkt fand. Das 100-Jahr-Jubiläum der Schule ging 1945 in den Wirren des Kriegsendes unter: Es gab nichts zu feiern.

Ein einst anerkannter Mundartdichter und Karnevalist wird von seiner Heimatgemeinde ausgegrenzt; er nimmt sich schließlich auf dem Dachboden seiner ehemaligen Wohnung das Leben. Eine Seniorin wird in ihrem eigenen Haus von einer behördlich tolerierten Terrorbande mit Schüssen in Brust und Stirn hingerichtet. Ein Geschäftsmann wird von den staatlichen Behörden enteignet; er begibt sich auf ein Passagierschiff, das ihn mit 936 weiteren Passagieren nach Kuba bringen soll.

Weit weg klingen die skizzierten Geschehnisse, nach Geschichten fürs Kino vielleicht. Doch das Drama spielt in der Gemeinde Buchen, die Tragödien sind Teil der Buchener Geschichte. Der Buchener Mundartdichter Jacob Mayer wurde in den Suizid getrieben. Die Jüdin Susanna Stern wurde am 10. November 1938 nach der Reichspogromnacht in Eberstadt exekutiert. Die „Arisierung“ hatte den Buchener Geschäftsmann Adolf Oppenheimer seine berufliche Existenz gekostet; er begab sich auf die St. Louis, um nach Kuba zu flüchten – die „Irrfahrt der St. Louis“ wurde tatsächlich verfilmt.

Gleichschaltung des Schulwesens

Der geschilderte Staatsterror bildete die historische Kulisse, vor der die Buchener Bürgerschule agieren musste. Die Propaganda und Ideologie der Nationalsozialisten machten auch vor den Schulen nicht halt. Im Zuge der Gleichschaltung des deutschen Schulwesens durch das Reichserziehungsministerium erhielten alle höheren Lehranstalten die Bezeichnung „Oberschule“; die Buchener Bürgerschule firmierte im Dritten Reich als „Odenwald-Schule – Oberschule für Jungen in Aufbauform“.

Die Buchener Schule hatte zwei Ausbildungszüge: In den sogenannten O-Klassen konnten Schüler nach einer vierjährigen Volks- oder Grundschulzeit nach neun Jahren das Abitur ablegen; in den A-Klassen wurden lediglich Jungen unterrichtet, die aufbauend auf eine sechsjährige Volks- oder Grundschulzeit das Abitur nach sechs Jahren machen konnten. Die Lehrbücher der deutschen Schulen wurden in den 1930er-Jahren vereinheitlicht, Rassenlehre und Wehrertüchtigung wurden Teil des Unterrichts.

Eine wichtige Quelle, die auf die nationalsozialistische „Gleichschaltung“ der Buchener Schule hindeutet, ist ein Foto des Buchener Fotografen Karl Weiß (1876 bis 1956), das die Buchener Abiturienten des Jahrgangs 1936 in HJ-Uniformen zeigt.

Schon zu Beginn des Krieges wurde der Schulbetrieb aufgrund der Einberufung von Lehrern immer wieder empfindlich gestört; 1939 etwa wurden acht Lehrer zum Frontdienst beordert. Ab 1942 wurden auch vermehrt Schüler einberufen. Sie wurden in den Kriegsjahren regelmäßig zu Ernteeinsätzen und zum Kräutersammeln eingesetzt. Den Abiturprüfungen im Frühjahr 1944 unterzogen sich nur noch zwei Schüler.

In den letzten Wochen des Krieges dienten Räumlichkeiten der Schule – das Schulgebäude, das heute die Meister-Eckart-Schule beherbergt – als Lazarett. Die Volksschulabteilung des Kultusministeriums siedelte in das Hauptgebäude der Odenwaldschule in der Schüttstraße um. Die Nationalsozialisten hatten die Schule komplett umfunktioniert.

Mehr zum Thema

175 Jahre Burghardt-Gymnasium Buchen (Teil 3)

Drei Schüler legten 1927 das erste Abitur ab

Veröffentlicht
Von
Michael Kolbenschlag
Mehr erfahren
175 Jahre Burghardt-Gymnasium Buchen (Teil 2)

Dem Enthusiasmus folgte die Krise

Veröffentlicht
Von
Michael Kolbenschlag
Mehr erfahren
175 Jahre Burghardt-Gymnasium Buchen (Teil 1)

Industrialisierung förderte die Bildung

Veröffentlicht
Von
Von Michael Kolbenschlag
Mehr erfahren

Sportliche Wettkämpfe

Walter Jaegle aus Buchen hat die Schule in der NS-Zeit als Schüler besucht. Noch heute klingen ihm die Worte des Schulleiters Dr. Ackermann im Ohr: „Englisch braucht ihr nicht mehr, nach dem Krieg spricht die Welt Deutsch.“ Jaegle erinnert sich beispielsweise an die sportlichen Wettkämpfe, etwa die Reichsjugendwettkämpfe, an die zahlreichen Elsässer Lehrer nach dem Frankreichfeldzug – und auch an den Todestag von Jacob Mayer, den 11. Juni 1939. „Der Jud ist jetzt auch tot“, so habe sich ein Lehrer im Laufe des Schultages geäußert. Nach dem Ende der letzten Stunde liefen einige schockierte Schüler zum Marktplatz zu Mayers Wohnhaus. Im Jahr 1943 wurde Walter Jaegle mit dem sogenannten Notabitur zur Luftwaffe eingezogen.

Gastschüler am Gymnasium

Einige Kinder waren in der Kriegszeit phasenweise als Gastschüler am Gymnasium, so auch Professor Dr. Alexander Hollerbach. Seinen Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass die Schüler gegen Ende des Krieges von ideologischen Indoktrinationen verschont blieben. Dies deckt sich mit den Erinnerungen von Walter Jaegle.

Hollerbach berichtet auch vom letzten Schultag der Odenwald-Schule, dem 26. März 1945: „Dr. Baumgart, der Direktor, kam ins Klassenzimmer und forderte uns eindringlich auf, uns so schnell wie möglich nach Hause zu begeben. In Anbetracht der Lage an der Front, die immer näher rücke, könne er es nicht mehr verantworten, dass weiterhin Unterricht stattfinde. Er hatte Tränen in den Augen.“ Bald danach rückten die Amerikaner in die Region ein.

Mehr zum Thema

Baumaterial wird knapp

Bauarbeiten am Buchener Burghardt-Gymnasium hinter Zeitplan

Veröffentlicht
Von
Ralf Scherer
Mehr erfahren
Gemeinsame Sache zum Wohl der Schüler

Buchener Burghardt-Gymnasium und Gemeinschaftsschule Limbach schließen Kooperationsvertrag

Veröffentlicht
Von
Maren Greß
Mehr erfahren
Ukraine-Hilfe

Buchen: Ein ganz besonderer Schüleraustausch

Veröffentlicht
Mehr erfahren

Die Rabbinerin Professor Dr. Eveline Goodman-Thau, Holocaust-Opfer und Buchen heute eng verbunden, erklärte Schülern des BGB vor einiger Zeit im Audienzsaal des Bezirksmuseums, dass „Erinnern“ im Jüdischen zugleich „Erneuern“ bedeute. Und darin mag wohl tatsächlich die Quintessenz des Erinnerns liegen: Es vermittelt nicht nur etwas von der Fassungslosigkeit, die Europa in der Nachkriegszeit angesichts des Ausmaßes der Vernichtung erfasste, es konserviert nicht nur den Nachhall des Schreckens, der Deutschland in der zweiten Jahrhunderthälfte auf einen besseren Weg brachte, sondern schärft zugleich den Blick für die Gestaltungspotenziale der Zukunft. Die Zukunft ist nicht determiniert, sie ist offen.

Der Höllensturz der deutschen Geschichte führt vor Augen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit keine historischen Automatismen sind, sondern schmerzhaft erkämpft wurden und immer wieder aufs Neue verteidigt und mit Leben gefüllt werden müssen. Das BGB verschreibt sich diesem Ziel ganz bewusst. „Jeder Mensch ist wertvoll“, lautet der erste Satz im Leitbild.

Copyright © 2025 Fränkische Nachrichten