Neckar-Odenwald-Kreis. Das Präsidium des Deutschen Landkreistags (DLT) hat Dr. Achim Brötel, Landrat des Neckar-Odenwald-Kreises, einstimmig für die Wahl zum Präsidenten nominiert. Die Wahl ist am 10. September. Die FN-Redaktion hat mit Brötel über seine Beweggründe gesprochen, dieses Amt anzunehmen..
Herr Brötel, es ist bekannt, dass Sie bereits morgens um 4.20 Uhr aufstehen und sich an Ihre Arbeit machen. Wie früh müssten Sie aufstehen, wenn Sie am 10. September zum Präsidenten des Deutschen Landkreistages gewählt werden sollten?
Dr. Achim Bötel: Früher aufstehen geht, glaube ich, nicht mehr. Ich mache das ja schon seit 36 Jahren. Den Wecker habe ich jeden Tag gestellt, aber ich brauche ihn eigentlich gar nicht. Entstanden ist das, als meine Frau damals in die Frühschicht als Krankenschwester gegangen ist. Ich habe den frühen Morgen seitdem als kreative Tageszeit für mich verinnerlicht. Da ist es draußen und im Haus noch ruhig und man hat die volle Bandbreite im Internet (lacht). Um diese Zeit bereite ich vor allem Reden vor oder beschäftige mich mit komplexeren Sachverhalten, für die man einfach auch einmal etwas Ruhe braucht.
Landrat sein ist im Grunde ein 24/7-Job, und jetzt kommt wahrscheinlich das Präsidenten-Ehrenamt des Deutschen Landkreistags dazu. Was treibt Sie dazu an?
Brötel: Ich sehe und spüre in meinem täglichen Geschäft, dass sich die Politik sowohl in Berlin als auch in Stuttgart mehr und mehr von der Lebenswirklichkeit entfernt, und zwar in einer Weise, wie ich das bisher noch nie erlebt habe. Ich bin jetzt seit 25 Jahren in der Kommunalverwaltung tätig, zuerst als Bürgermeister, dann als Landrat, und stelle heute fest: So weit weg von der Realität vor Ort waren politische Entscheidungen noch nie.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Brötel: Ich will hier nur das Bundesteilhabegesetz erwähnen, das die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung regelt. Umständlicher und überbürokratisierter kann man ein Gesetz nicht mehr machen. Das Bestreben nach vollkommener Einzelfallgerechtigkeit, das eh ein typisch deutsches Phänomen ist, stößt aber einfach dort an Grenzen, wo das in der Praxis schlicht nicht mehr umgesetzt werden kann. Mir kommt das inzwischen regelrecht als Verwaltung um der Verwaltung willen vor. Und dann wundern wir uns, wenn die Kosten explodieren? In meinem ersten Kreishaushalt, den ich 2005 einbringen durfte, standen für die Eingliederungshilfe 13,7 Millionen Euro als Ansatz. Dieses Jahr steuern wir hingegen auf 38 Millionen Euro zu. Ich frage mich oft: Wie viel davon kommt eigentlich überhaupt bei den Menschen mit Behinderung an? (Anm. d. Red.: Mehr Aussagen Brötels zum Bundesteilhabegesetz lesen Sie im zweiten Teil unseres Interviews).
Wie wollen Sie die Kluft zwischen Politik und Realität schließen?
Brötel: Wir müssen als Kommunen da selbstkritisch sein. Wir schaffen es nämlich offenbar nicht mehr, unsere Botschaften den politischen Entscheidungsträgern und vielleicht auch der Presse gegenüber so zu vermitteln, dass sie dort auch verstanden werden. Ich glaube deshalb, wir müssen neben der reinen Fachlichkeit eine neue, eine zweite Sprachebene entwickeln. Einfacher und prägnanter. Kleine fachliche Unschärfen, die dadurch entstehen, nehme ich dafür gerne in Kauf. Ich glaube, wenn wir zehnseitige Schreiben an Politiker schicken, steigen die meisten nach der zweiten oder dritten Seite aus. Und: Das kann ich ihnen noch nicht einmal verübeln. Für mich heißt das aber: Wir müssen darüber nachdenken, ob das, was wir formulieren, von der Politik, aber auch von den Menschen überhaupt noch verstanden wird. Vor Ort werden politische Entscheidungen, aber auch ihre Auswirkungen allerdings halt nun einmal konkret. Geflüchtete Menschen stehen in der Realität nicht vor dem Bundestag, sondern sie stehen vor den Rathäusern oder den Landratsämtern.
Äußern Ihre Landratskollegen solche Probleme auch oder müssen Sie sie davon erst überzeugen?
Brötel: Das nehmen wir ausnahmslos alle in gleicher Weise wahr. Der Eindruck ist: Wir werden nicht mehr gehört und schon gar nicht mehr verstanden. Die Bundesregierung ist verpflichtet, die kommunalen Spitzenverbände zu Gesetzesvorhaben binnen einer angemessenen Frist anzuhören. Diese Anhörungen sind inzwischen aber nur noch eine Farce. Die Politik diskutiert monatelang beispielsweise über die Kindergrundsicherung, und wir sollen zu dem dicken Gesetzentwurf dann binnen sieben Tagen Stellung nehmen. Da drängt sich einem schon der Eindruck auf, dass die Einschätzung derer vor Ort, die das neue Gesetz dann umsetzen sollen, in Wirklichkeit gar nicht mehr gewünscht ist. Mir kommt die Politik mehr und mehr wie ein Schichtmodell vor: Es gibt oben die Bundespolitik, dann in der Mitte die Landespolitik und ganz unten die kommunale Ebene, die am Ende alles ausführen und womöglich auch noch bezahlen soll. Aber Verbindungen zwischen den einzelnen Schichten gibt es fast gar keine mehr. Es wird viel zu wenig miteinander gesprochen.
Zum Reden gehören immer zwei Seiten. Wie wollen Sie erreichen, dass Ihnen „die große Politik“ zuhört?
Brötel: Es hat auch schon andere Zeiten gegeben. Bei einer Bundeskanzlerin Merkel waren wir noch gefragte Gesprächspartner. Im Moment habe ich aber nicht den Eindruck, dass man die kommunale Stimme überhaupt noch hören will.
Wie äußert sich das?
Brötel: Unangemessen kurze Fristen für Stellungnahmen sind ein signifikantes Beispiel dafür. Oder man spricht gleich gar nicht mehr mit uns wie bei der Krankenhausstrukturreform. Oder man wischt die Argumente aus den Kommunen einfach weg, weil sie einem nicht in den politischen Kram passen.
Dann entspricht diese Präsidenten-Kandidatur also genau Ihrem Naturell: Lieber anpacken und machen als nur mosern und abwarten.
Brötel: Ja, genau. Ich habe sowohl als Bürgermeister wie auch als Landrat genau das versucht. Es war mir schon immer ein Anliegen, mit den Entscheidungsträgern in einen Dialog zu treten. Wenn ich der Meinung bin, es läuft etwas schief, dann sage ich das auch. Und ich möchte vor allem auch weiterhin Mitglied im Verein für klare Ansagen bleiben.
Wie wurden Sie Kandidat für dieses Amt?
Brötel: Baden-Württemberg hat als starker und großer Landesverband zum letzten Mal 1960 den Präsidenten des Deutschen Landkreistags gestellt. Insofern war die Zeit für uns jetzt sicher mehr als reif. Nachdem unser baden-württembergischer Präsident, der Kollege Joachim Walter aus Tübingen, aber erklärt hatte, dass er nicht antreten wird, ist dann mein Name ins Spiel gekommen. Da ich schon seit 2018 Vorsitzender des Sozialausschusses auf Bundesebene und seit 2023 auch Mitglied des DLT-Präsidiums bin, war ich bei den Kolleginnen und Kollegen kein Unbekannter. Trotzdem war diese Entwicklung für mich am Anfang aber ziemlich überraschend. Das Amt des Präsidenten ist eine tolle Aufgabe, eine besondere Herausforderung, eine riesige Ehre, aber eben auch ein verdammt großes Rad. Ich traue es mir jedoch zu und freue mich jetzt auch sehr darauf, wenngleich ich vor dieser Aufgabe schon auch eine gehörige Portion Respekt habe. Ich habe im Vorfeld der Wahlempfehlung des Präsidiums mit allen Landesverbänden gesprochen und dabei ganz viel Zustimmung erfahren. Das hat mich offen gesagt sehr gefreut und zugleich auch bestärkt. Am Ende stand dann sogar eine einstimmige Wahlempfehlung des Präsidiums für mich. Damit hatte ich in dieser Deutlichkeit nicht gerechnet.
Was hat Ihre Frau dazu gesagt?
Brötel: Sie hat mir die Entscheidung selbst überlassen (lacht).
Wie wird dieses Präsidentenamt ihren bisherigen Tagesablauf als Landrat verändern?
Brötel: Ich denke, dass es schon deutlich anders sein wird als bisher. Auf der anderen Seite kann man viele Dinge heutzutage aber ja auch durch mobiles Arbeiten erledigen und Besprechungen digital abhalten. Und: Diszipliniertes Leben nach dem Kalender bin ich eh gewohnt. Von daher ist es mein erklärtes Ziel, dass man im Neckar-Odenwald-Kreis gar nicht so viel davon mitbekommt, dass ich jetzt auch noch bundesweit unterwegs bin. Die Wochenenden werden ohnehin von der Tätigkeit beim DLT kaum tangiert sein, so dass ich da weiterhin in gewohnter Weise Termine im Kreis wahrnehmen kann. An den Werktagen wird es allerdings wohl schon anders aussehen. Da werde ich künftig auch das eine oder andere Mal fehlen. Und: Wir müssen im Büro noch mehr als bisher mit den Terminen jonglieren.
Müssen sich die Neckar-Odenwälder also keine Sorgen darüber machen, dass ihr Landrat sie vernachlässigt?
Brötel: Da habe ich einen klaren Anspruch an mich selbst: Im Idealfall wird man das neue Amt vor Ort gar nicht groß merken. Fakt ist: Im Hauptamt bin und bleibe ich Landrat des Neckar-Odenwald-Kreises, und für dieses Amt brenne ich vor allem auch immer noch. Das alles unter einen Hut zu bringen, ist jetzt meine persönliche Herausforderung. Ich werde mir auf jeden Fall aber die größte Mühe geben, dass es gelingt. Und: Am Ende gibt es ja auch noch vier Vizepräsidenten. Man muss nicht immer alles auf sich selbst zuschneiden.
Wie verhält sich das bei einem Terminkonflikt, siegt da immer der des Hauptamtes?
Brötel: Das hängt im Zweifel von der Situation und vom Termin ab. Wenn am Tage einer Sitzung unserer Kreisgremien das Bundeskanzleramt rufen würde, könnte man das nur schwer absagen mit der Begründung: Wir haben heute Jugendhilfeausschuss (lacht).
Wie reisen Sie nach Berlin in die Zentrale des Deutschen Landkreistags? Mit dem Zug, dem Flugzeug oder dem Auto?
Brötel: Ich bin auf Langstrecken überzeugter Zugfahrer. Wenn die Züge die Güte hätten, so zu fahren, wie es im Fahrplan steht, würde der ICE für die Strecke Würzburg - Berlin etwa vier Stunden benötigen. Aber da habe ich leider auch schon so manche Havarie erlebt. Wenn die Bahn weiter so unzuverlässig bleibt wie zuletzt, werde ich wohl oder übel auf das Auto umsteigen müssen.
Wäre Fliegen eine Alternative?
Brötel: Zumindest im Regelfall nicht wirklich. Von Frankfurt aus bringt das mit dem Transfer zum Flughafen, Sicherheitsschleusen, Boardingzeiten, der reinen Flugzeit und dem Transfer in Berlin Richtung Zentrum zeitlich nichts. Für Brüssel, wo die kommunalen Spitzenverbände ein eigenes Europabüro haben, kann es hingegen vielleicht schon auch der Flieger werden.
Im Falle einer Wahl: Was wäre Ihre erste Amtshandlung?
Brötel: Das Schöne ist: Es wird mir auch dabei mit Sicherheit nicht langweilig werden. Schon zwei Tage nach der Wahl tagt die Energieministerkonferenz zusammen mit Bundesminister Habeck in Berlin. Dazu bin ich ebenfalls als Gesprächspartner eingeladen. Der Start ist also schon einmal vorgegeben. Generell sehe ich meine Aufgabe vor allem darin, bei solchen, aber auch bei anderen Anlässen eine zweite Sprachebene in Richtung Politik zu entwickeln. Dazu gehört es auch, die Arbeit mit den Bundestagsfraktionen, den Ministerien, aber auch mit der europäischen Ebene zu verstärken, weil viele Dinge, die uns betreffen, eben von dort gesteuert werden.
Wie läuft so eine Wahl ab?
Brötel: Die Wahl selbst ist im internen, nichtöffentlichen Teil. Anschließend gibt es aber auch noch einen öffentlichen Teil der Mitgliederversammlung. Letzter Tagesordnungspunkt ist dann die Rede des neuen Präsidenten des Deutschen Landkreistags. Dessen Name fehlt natürlich noch auf der Tagesordnung.
Eine Amtszeit dauert zwei Jahre. Streben Sie mehrere Amtszeiten an?
Brötel: Die Erwartungshaltung beim Deutschen Landkreistag ist schon, dass ich das Amt länger als zwei Jahre ausübe. Man geht eher von sechs Jahren aus. Das macht auch Sinn. Jeder Präsident braucht zunächst einfach eine bestimmte Zeit, um die erforderlichen Kontakte zu knüpfen. Ich habe noch stark fünf Jahre Amtszeit als Landrat. Die DLT-Satzung sieht aber vor, dass man das Amt des Präsidenten in der letzten Wahlperiode auch dann zu Ende führen kann, wenn man schon aus dem Hauptamt ausgeschieden ist. Das ist aktuell bei unserem amtierenden Präsidenten Reinhard Sager auch so.
Aber das hört sich doch jetzt immer mehr nach einem Fulltime-Job an. An all den genannten Stellen wird es ja mit einem Gespräch nicht getan sein.
Brötel: Ich bin jetzt 25 Jahre im Geschäft. In dieser Zeit habe ich natürlich die Erfahrung gemacht, dass man nicht immer gleich Recht bekommt. Aber die Kontakte und die Kommunikation, die ich schon jetzt intensiv pflege, betrachte ich deshalb keineswegs als sinnlos. Oft führt so etwas dann doch noch zum Ziel - wenn auch nicht immer so schnell, wie ich das gerne gehabt hätte. Wenn wir künftig zumindest einige unserer guten Argumente in neuen Gesetzesregelungen finden, dann haben wir schon viel erreicht.
Apropos Gesetzesregelung: Im ersten Teil unseres Interviews hatten Sie das Bundesteilhabegesetz (BTHG) stark kritisiert. Warum?
Brötel: In der „alten Welt“ ist die Hilfe für Menschen mit einer Behinderung mit einem Pauschalbetrag abgegolten worden. In dieser Pauschale war alles drin: das Wohnen, die Teilhabe, die Betreuung, das Essen und so weiter. Das neue BTHG zerlegt dieses „All inclusive“-Paket jetzt aber in viele einzelne Teilleistungen. Da muss ein separater Wohnungsmietvertrag geschlossen werden, die Teilhabe wird ganz individuell bemessen, alles explizit auf den jeweiligen Einzelfall abgestellt. Allein diese individuelle Teilhabeplanung bindet unglaublich viele Kapazitäten. Der Grundgedanke, der dahinter steht, ist zwar durchaus richtig. Jeder Mensch ist von Haus aus nämlich verschieden. Nur: Alles das führt eben auch zu einem riesigen Verwaltungsaufwand und zu explodierenden Kosten. Und: Viele Menschen mit Behinderung sind gar nicht in der Lage, das selbst für sich zu regeln. Dafür brauchen wir dann die ehrenamtlichen Betreuer, von denen sich immer mehr durch diesen gewaltigen Aufwand aber auch schlicht überfordert fühlen.
Wie ist derzeit der Stand bei der Umsetzung des Gesetzes?
Brötel: Das Gesetz ist schon seit dem 1. Januar 2020 in Kraft und immer noch nicht richtig am Laufen. Das sagt doch eigentlich schon alles. Dinge, die kein Mensch mehr händeln kann, gehen einfach an der Realität vorbei. Schon die stufenweise angelegte Umsetzung ist eher etwas für verkopfte Theoretiker als für praktisch veranlagte Menschen. Man muss zuerst einen Landesrahmenvertrag abschließen, dann viele „kleine Rahmenverträge“ mit den einzelnen Einrichtungen, die sogenannten Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen, ehe tatsächlich auch der individuelle Vertrag mit dem Menschen mit Behinderung auf die neuen Rahmenbedingungen umgestellt werden kann. In der Praxis haben wir jetzt aber den reinsten Wildwuchs bei den Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen. Jede Einrichtung und jeder Leistungserbringer hat praktisch sein eigenes System. Und: Wir müssen uns, weil wir ja mit vielen Leistungserbringern zusammenarbeiten, dann auch in jedem dieser Systeme auskennen. Das ist so im Grunde aber nicht mehr leistbar. Deshalb muss das Verfahren deutlich, deutlich einfacher werden.
Das hört sich nach viel Bürokratie an. Hat das Gesetz auch Vorteile?
Brötel: Im Idealfall ist es natürlich die Premiumlösung für die Betroffenen. Nur: ausführen kann es halt keiner mehr. Für die Bedarfsermittlung hatten wir früher einen dreiseitigen Fragebogen. Jetzt sind es 41 Seiten. Der wird zwar aktuell wieder reduziert. Aber die Vorstellung, im Extremfall mit einem Schwerstmehrfachbehinderten einen 41-seitigen Fragebogen durchzugehen, zeugt nicht unbedingt von einer großen Nähe zur Lebenswirklichkeit. Wir verwalten uns irgendwann einmal noch zu Tode. Und was uns am meisten betrübt: Bei uns explodieren die Kosten vor allem deswegen, weil wir diesen irrsinnigen Verwaltungsmehraufwand haben. Bei den Menschen mit einer Behinderung kommt das Geld aber am Ende nicht oder jedenfalls nicht im erforderlichen Maß an. Und: es kommt auch noch ein weiterer Aspekt dazu, nämlich der Fachkräftemangel. Selbst wenn es morgen Goldstücke regnen würde, worauf zumindest meine Wetter-App nicht hindeutet, hätten wir dadurch allein nämlich nicht eine einzige Mitarbeiterin oder einen einzigen Mitarbeiter mehr, um dieser Feinziselierung des Gesetzgebers auch nur annähernd gerecht zu werden. Es kann aber nicht sein, dass in Berlin und Stuttgart jeden Tag mehr Verästelungen in Gesetze eingebaut werden und die Rechnungen dafür am Ende dann auch noch bei uns auflaufen. Das alles und vieles mehr motiviert mich, im Deutschen Landkreistag Verbandsarbeit zu leisten.
Würden Sie sich als designierter Präsident des Deutschen Landkreistags über einen Regierungswechsel freuen?
Brötel: Ich wünsche mir eine Bundesregierung, die die kommunale Seite endlich wieder ernst nimmt. Das hat zunächst einmal gar nichts mit dem politischen Farbenspektrum zu tun. Im Grunde sind auch alle Landräte, die der SPD oder anderen Ampel-Parteien angehören, unserer Meinung. Fakt ist aber: Die jetzige Regierung missachtet offenkundig kommunale Interessen. Das ist für mich schwer erträglich.
In Deutschland gibt es 294 Landkreise. Da gibt es doch vermutlich unglaublich unterschiedliche Interessen. Wie sind die unter einen Hut zu bringen?
Brötel: Das klingt schlimmer, als es ist. Es gibt bei den Interessen nämlich riesige Schnittmengen. Wir machen im Deutschen Landkreistag definitiv keine Parteipolitik, sondern wir vertreten die Interessen der Landkreise, und die sind nahezu überall identisch. Alle haben Krankenhäuser, alle müssen Leistungsansprüche umsetzen, ohne dafür auch das Geld zu bekommen, alle haben Probleme bei der Jugendhilfe oder der Hilfe zur Pflege, alle müssen einen ÖPNV organisieren und bezahlen und alle müssen geflüchtete Menschen unterbringen, versorgen und im Idealfall auch integrieren.
Kürzlich kündigte der Landrat vom Landkreis Mittelsachsen an zurückzutreten, weil er bedroht wird. Was meinen Sie dazu?
Brötel: Was wir täglich aushalten müssen, ist sicher kein Zuckerschlecken. Das ist eine große zeitliche und nicht selten auch eine psychische und persönliche Belastung, in der Regel in einer Sieben-Tage-Woche. Da gibt es schon auch einmal Menschen, die plötzlich vor der privaten Haustür stehen. Hemmschwellen sind da mehr und mehr gefallen. Trotzdem ist es für mich keine Alternative, vor einer solchen Situation zu fliehen und den Bettel einfach hinzuschmeißen. Herausforderungen sind dazu da, dass man sie angeht, und Probleme dazu, dass man gemeinsam mit anderen nach Lösungen sucht. Deshalb macht es sich der Kollege in Mittelsachsen meines Erachtens zu leicht.
Ihr Kollege Marco Scherf aus Miltenberg hat einmal medial gepoltert. Würden Sie sich das von mehr Landräten wünschen?
Brötel: Poltern allein hilft sicher auch nicht. Deutlich seine Meinung sagen, ist aber etwas grundlegend anderes. Wir leben in herausfordernden Zeiten. Und da muss man schon auch einmal Klartext reden, aber nicht, indem wir mit dem Dampfhammer auf andere draufhauen. So hat es der Kollege Scherf aber auch nicht getan. Im Gegenteil. Ich finde, gerade er hatte immer gute Argumente für seine deutlichen Worte. Deshalb gibt es daran sicher nichts auszusetzen. Marco Scherf ist spürbar kommunal geerdet. Das ist übrigens ein schönes Beispiel für die Einheit auf Landkreisebene. Da tickt ein Grüner nämlich nicht anders als ein Schwarzer oder ein Parteiloser. Wir Landräte sind uns in den zentralen Fragen einig. Die Menschen erwarten von uns, dass wir uns den Herausforderungen stellen und Lösungen suchen. Ich vermeide, wenn ich kann, auch das Modewort „Krise“, sondern spreche lieber von Herausforderungen. Krise klingt immer nach etwas Schicksalhaftem, das man gar nicht so recht beeinflussen kann. Die Leute wählen aber deshalb Menschen in bestimmte Ämter, weil sie von ihnen Lösungen erwarten.
Der 9. September, der Tag vor der Wahl, ist ein besonderer Tag für Sie. Was läuft an Ihrem Geburtstag?
Brötel: Ich habe meinen Geburtstag, wenn es kein runder war, bisher noch nie groß gefeiert. Wenn ich da im Neckar-Odenwald-Kreis wäre, hätte ich deshalb auch einen ganz normalen Arbeitstag. Insofern: es wird sein wie immer, nur halt an einem anderen Ort.
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