Bad Mergentheim. Den Prozess vor dem Oberlandesgericht Stuttgart gegen den „Reichsbürger“ Ingo K. aus Bobstadt nahm das ‚Netzwerk gegen Rechts Main-Tauber’ zum Anlass, um mit einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe über Neonazis, „Reichsbürger“ und die gesamte rechte Szene zu informieren. Die Auftaktveranstaltung fand in der Halle „Stadtgarten“ in Bad Mergentheim statt. Zum Thema „Die extreme Rechte und der Tag X“ referierte Prof. Dr. Matthias Quent von der Hochschule Magdeburg-Stendal, bekannt auch durch sein Buch „Deutschland rechts außen“.
Mehr als 80 Interessenten konnte Timo Büchner vom ‚Netzwerk gegen Rechts Main-Tauber’ im Stadtgarten begrüßen, und der Rechtsextremismusforscher wies gleich zu Beginn auf der 20. April 2022 hin – da kam die Polizei nach Bobstadt, um den „Reichsbürger“ Ingo K. Zu verhaften. Mit Prof. Dr. Matthias Quendt habe man einen profunden Kenner der Materie, und er warte mit Spannung auf den Vortrag.
Nachvollziehbar
Was angekündigt war, erwies sich als richtig: Quents Vortrag war gespickt mit Details, und viele stellte der Professor nachvollziehbar und verständlich heraus.
Mit dem 8. beziehungsweise 9. Mai 1945 habe „keine Stunde Null begonnen“, sagte der Professor, vielmehr entstand eine „postnazistische“ Gesellschaft – in beiden deutschen Staaten. Über Jahrzehnte wurde die extreme Rechte nicht ernst genommen, „Reichsbürger“ etwa galten lange Zeit einfach als „Spinner“. Dabei sei bis weit in die 1980er Jahre die These von der Wiederherstellung des deutschen Reiches das wichtigste Thema der extremen Rechten gewesen, erläuterte Quent.
Der Tag X
Er verwies dabei auf Kleinstparteien, aber auch die bekannte ‚Wehrsportgruppe Hoffmann’. Die Bezeichnung „Spinner“ oder „Extremisten“ zeige auch auf, dass man die reale Gefahr lange nicht erkannt habe – oder auch nicht erkennen wollte. Dabei sei klar: „Diese Leute warten auf den ‚Tag X’, und darauf sowie die Herbeiführung bereiten sie sich vor.“
Der ‚Tag X’ sei der ersehnte Zeitpunkt des Zusammenbruchs der verfassungsmäßigen demokratischen Ordnung. „Nicht alle sind bereit, auf eine Krise zu warten – sie wollen sie selbst auslösen.“ Das wird mittlerweile auf vielen Wegen versucht, sogar parlamentarisch. Und wenn die AfD in Thüringen 28 Prozent und deutschlandweit zweistellig ist, dann müsse klar sein: „Da bewegt sich was“ – angefangen von der Vorbereitung auf den Niedergang des demokratischen Systems bis hin zum totalen ‚Exit’, den man gewaltsam und terroristisch beschleunigen wolle. In den Augen vieler Rechtsradikaler sind die unter anderem mit der Globalisierung einhergehenden Modernisierungs- und Liberalisierungsprozesse Zeichen und Beschleuniger eines gesellschaftlichen Niederganges“.
Ein Teil dieses Milieus, betonte Quent, sei überzeugt, dass ein „Zerfall der deutschen Kultur“ bevorstehe.
Quent zitierte aus 2019 zum Jahrestag des rechtsterroristischen, vom NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) in der Kölner Keupstraße verübten Attentats, in Tatortnähe verteilten Drohbriefen: „Moslems in Deutschland! Eure Invasion in unser Land wird scheitern. Das deutsche Volk wacht auf und wir erkennen immer klarer, dass ihr Feinde seid, und uns hasst. Ihr seid das willfährige Werkzeug der Juden, um Deutschland und Europa zu zerstören. Deshalb ist jeder einzelne von euch ein legitimes Ziel.“ Über dem Text prangte ein Hakenkreuz und das Logo der rechtsterroristischen Gruppierung „Atomwaffen Division Deutschland“ (AWD). Einer davon, Marvin E., gab vor Gericht zu, Bomben sollten gegen Menschen eingesetzt werden – in dem „Rassen- und Bürgerkrieg“, den die AWD herbeiführen wolle, um eine neo-nationalsozialistische Gesellschaftsordnung zu schaffen.
Antisemitismus
Das offenbare, so Quent, „die Verbindung von antimuslimischem Rassismus mit antisemitischen Verschwörungsvorstellungen, die allen rechten Erzählungen vom ‚Bevölkerungsaustausch’, von ‚Umvolkung’ oder ‚Volkstod’ innewohnen“.
Der Antisemitismus nehme in aktuellen Formen des Rechtsterrorismus „eine hervorgehobene Rolle ein, die sich stets in Verschwörungsideologien über die ‚zionistisch okkupierte Regierung’ und im Hass auf die Polizei ausdrückt, die ‚jüdischen Interessen’ dient.“
Für manche Rechtsradikale sei der Rückzug in Enklaven, in denen sich die ‚weiße Rasse’ vor der bevorstehenden Apokalypse schützen kann, die Antwort. „Dieser Exit aus der Demokratie findet seine praktische Entsprechung in abgeschotteten Lebenswelten wie der neonazistischen Subkultur, in völkischen und rechtsesoterischen Siedlungen, in komplexen Verschwörungslegenden sowie in der Negierung der Legitimität der Bundesrepublik und der Erfindung von Pseudostaaten.
„Das apokalyptische ‚Tag X’-Narrativ ist nicht neu“, sagte Quent, denn es tauche immer wieder in rechtsradikalen und neonazistischen Publikationen und Äußerungen auf. Der rassistische Kulturpessimismus prägte schon in den Jahrzehnten vor dem Nationalsozialismus das Weltbild der Anhängerschaft der so genannten Konservativen Revolution, die den Nazis den Weg bereitete und die Neue Rechte noch heute maßgeblich beeinflusst. „In der radikalen Rechten haben die Untergangsnarrative der Nazis überlebt“, die Sicherheitsbehörden stünden vor der Herausforderung, Äußerungen in Bezug auf den ‚Tag X’ im Kontext milieuspezifischer Sprachcodes und Weltanschauungen einzuordnen.
„In dieser Lesart ist der ‚Tag X’ der Zeitpunkt des Ausbruchs des offenen Kampfes gegen den demokratischen Verfassungsstaat und der Beginn der nationalen Revolution“. Dieses Verständnis sei besonders im Neo-Nationalsozialismus verbreitet; „auch in vielen Rechtsrockliedern und Neonazi-Chatgruppen ist dieses Narrativ präsent“.
Der Rechtsterrorismus erreiche seine Wirkung vor allem durch gewaltförmige „Botschaften“ an gesellschaftliche, oft marginalisierte Gruppen und Einzelpersonen. „Einschüchterung und Vertreibung befördern eine abweichende Verfassungsrealität, in der die prinzipielle Gleichwertigkeit und Menschenwürde angreifbar sind und die Verfassungsordnung vulnerabel erscheint.“
Für das demokratische System sei daher die beabsichtigte mittelbare Wirkung von Terrorismus in allen Bereichen „stets eine größere Gefahr als die unmittelbaren Folgen der Anschläge selbst“.
Auch deshalb hatte Professor Dr. Matthias Quent zum Schluss seines Vortrages eine klare Botschaft: „Man muss die Gefahren des Rechtsextremismus erkennen und ernst nehmen!“
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