Adelsheim. Der Abend mit Frederic Böhle in Schloss Adelsheim machte Lust auf Literatur – und auf Musik und Theater. Denn der Sprecher und Schauspieler gestaltete seinen Auftritt im Rahmen von „Adelsheim leuchtet“ zu einer szenischen Lesung mit vollem Körpereinsatz.
Zum Motto der Ausstellung „Emergency Exit“ – „Notausgang“ wählte Böhle drei Texte aus, die jeweils auf ganz verschiedene Weise, aber mit höchster Sprachkunst das Ende einer Welt zum Thema hatten. Die etwa 40 Zuhörer hörten von traumatischen Orten und phantastischen Szenerien, die vom Schrecken immer wieder ins Grotesk-Komische kippten.
Mit kalkulierter Vehemenz stürzte Frederic Böhle zum Auftakt in den Saal, um den gespannt wartenden Gästen zuerst sich selbst und seinen Klavierbegleiter Benedikt Bernstorff, und dann die „Menükarte“ des Abends vorzustellen.
Danach sprach zuerst die Musik, so Böhle, und zwar mit einem Scriabin-Prélude. Den Auftakt der Lesung machte ein Auszug aus Arno Schmidts Erzählung „Das Ende der Welt“, in der der Ich-Erzähler eine fiktive, streckenweise grauenerregende Radtour durch die kriegszerstörte Lüneburger Heide beschreibt. Er radelt an zerbombten Häusern und skelettierten Leichen vorbei, erleichtert bereits geplünderte Läden um die letzten verwertbaren Reste und beschreibt en passant die Schönheit stehengebliebener Bäume. Dabei stellt er mehr als einmal fest: „Gut, dass alles zu Ende war“. Zunächst wurde das Gelesene nur sparsam durch wenige Takte Musik unterbrochen.
Der zweite Text, Harlan Ellisons „,Bereue, Harlekin!’, sagte der Ticktackmann“ handelte von einer Welt, die buchstäblich durchgetaktet ist. Der Mensch ist auf seine Zweckdienlichkeit begrenzt. Die Zeit dirigiert alles. Wer sich verspätet, bekommt die vergeudeten Minuten von seiner Lebenszeit abgezogen und wird im schlimmsten Fall vom Ticktackmann abgeschaltet. Das geht natürlich nur, wenn der unheimliche Herrscher über die Zeit den Namen des Delinquenten kennt. Dem kann sich der Harlekin, der sich über den allgemeinen Zwang zur Nützlichkeit lustig macht, zunächst entziehen. Am Ende wird er aber erwischt, denn seine Freundin hat ihn denunziert - weil sie es bequemer findet, sich dem System anzupassen. Die letzten Zeilen der Geschichte bringen dann aber doch noch so etwas wie eine Wende. Sie mündeten in einen Tango von Albeniz.
Mit Wolfgang Hildesheimers „Das Ende einer Welt“ wurde der Vortrag zunehmend dynamisch. Böhle sprang während des Vortrags auf, spazierte durchs Publikum. Gestikulierend, dabei immer eine Hand am Buch oder am Tablet. Den Text hatte er aber offensichtlich bereits voll verinnerlicht.
In dieser Erzählung hat sich die Marchesa Montetristo auf einer eigens aufgeschütteten Insel einen Palast erbauen lassen. Dort kommen die erlauchtesten Menschen zusammen, um eine Uraufführung zu hören. Davon berichtet ein Ich-Erzähler, der, wie man erfährt, gerade noch mit dem Leben davongekommen ist. Denn der Palast samt Marchesa, illustrem Publikum und Champagner ist untergegangen.
In der Geschichte wird eine Flötensonate aufgeführt – und das Geschehen im Stück spiegelte sich zunehmend im Adelsheimer Saal. Musik (eine Invention von Bach) und Vortrag überlagerten und kommentierten sich gegenseitig. Vorboten des Untergangs machen sich bemerkbar, doch das Flötenstück soll weitergehen, entscheidet die Marchesa stolz – trotz Ratten an den Wänden und sich füllenden Pfützen.
Beim Allegro con brio spitzt sich die Situation zu. Unter den verächtlichen Blicken der anderen Gäste rettet sich der Ich-Erzähler als einziger; er gehört nun „nicht mehr dazu“.
Er windet sich an Wänden entlang und quetscht sich (im Text und im Saal) durchs Publikum und aus dem Raum hinaus – unter dem Beifall der echten Zuhörer in Adelsheim für diese gelungene Inszenierung der über 70 Jahre alten, noch immer gültigen Parabel auf den Kulturbetrieb. Großer Applaus war den beiden Protagonisten sicher.
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