Schwimmbäder scheinen auf Filmemacher eine ungebrochene Faszination auszuüben. Doris Dörrie begab sich 2022 ins „Freibad“, wo sie Frauen verschiedener Kulturen komödiantisch aufeinanderprallen ließ. In Jerzy Skolimowskis „Deep End“ (1970) nimmt ein 15-Jähriger einen Job in einem Londoner Hallenbad an, wo er sich Hals über Kopf in eine sieben Jahre ältere Frau verliebt, während Burt Lancaster in Frank Perrys allegorischer Fabel „Der Schwimmer“ (1966) als alternder Junggeselle durch die Pools früherer Freunde krault. Nicht zu vergessen – vielleicht das Highlight des Subgenres – Jacques Derays erotische Viereckgeschichte „Der Swimmingpool“ (1968) mit Romy Schneider und Alain Delon.
Und nun „22 Bahnen“, inszeniert von Mia Maariel Meyer („Die Saat“) nach dem Drehbuch von Elena Hell („Sisi“), das auf dem gleichnamigen Bestseller von Caroline Wahl fußt, die übrigens bei Heidelberg aufgewachsen ist. Wieder einmal ist es eine Initiationsgeschichte, ein Film über das Erwachsenwerden, die Schwierigkeiten der Liebe, über Familie, Zusammenhalt und Freundschaft. Im Mittelpunkt steht Tilda (Luna Wedler), deren Tage in einer gesichtslosen Kleinstadt ewig gleich ablaufen: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, schwimmen, sich um ihre kleine Halbschwester Ida (Zoë Baier) kümmern – und an schlechten Tagen um ihre Mutter (Laura Tonke). Die Väter haben sich längst verabschiedet, ihre Freunde sind weg, leben inzwischen in Amsterdam und anderswo. Nur Tilda ist geblieben. Irgendjemand muss für die aufgeweckte Ida da sein, Geld verdienen, Verantwortung tragen.
Da geraten eines Tages die Dinge in Bewegung: Tilda, hochbegabte Mathematikerin, bekommt einen Promotionsplatz in Aussicht gestellt. In Berlin. Es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Zudem taucht Viktor (Jannis Niewöhner) auf, der große Bruder von Ivan, Tildas Ex-Freund, den sie vor fünf Jahren durch einen Unfall verloren hat. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Ein Wink des Schicksals? Vielleicht sollte doch noch alles gut werden …
Tokio-Hotel-Hit „Durch den Monsun“ als Leitmotiv
Die Filmemacherin setzt auf einen ruhigen, unspektakulären Ton. Sie konzentriert sich auf drei Aspekte: die Dynamik zwischen der vom Leben gebeutelten Mutter und ihren beiden Töchtern, die langsam keimende Beziehung zwischen Viktor und der vorsichtigen Tilda und vor allem die innige Beziehung der Geschwister, die sich trotz ihres Altersunterschieds stets auf Augenhöhe begegnen. Leitmotivisch steht dafür der Tokio-Hotel-Hit „Durch den Monsun“, den sie in schwierigen Situationen gemeinsam anstimmen, dessen Liedtext die innere und äußere Reise der beiden Mädchen symbolisch spiegelt. Ein Durchhalte-Song, der ihnen den Alltag erleichtert und Zuversicht gibt.
Luna Wedler
- Als „Das schönste Mädchen der Welt“ wurde sie 2018 bekannt: Luna Wedler, 1999 als Tochter einer Schweizer Lehrerin und eines deutschen Arztes in Zürich geboren . Sie besitzt ein Diplom in zeitgenössischem Tanz und schloss 2018 die Zürcher European Film Actor School ab.
- Als 14-Jährige stand sie im Coming-of-Age-Drama „Amateur Teens“ vor der Kamera, ihre erste Hauptrolle – für die sie einen Schweizer Filmpreis als beste Darstellerin gewann – übertrug ihr Lisa Brühlmann 2017 in ihrem Spielfilmdebüt „Blue My Mind“.
- Der „Shooting Star 2018“ der European Film Promotion war Teil der Besetzung der TV-Krimiserien „Das Team“ bzw. „Biohackers“, im Kino unter anderem in der Komödie „Flitzer“, dem Kriminalfilm „Der Läufer“, dem WG-Drama „Auerhaus“, dem Politthriller „Je suis Karl“ oder der Lovestory „Die Geschichte meiner Frau“ zu sehen.
- Zudem konnte man Wedler, die in Zürich lebt und 2020 mit dem Bayerischen Filmprei s als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet wurde, in Maggie Perens „Der Passfälscher“, mit Nicholas Ofczarek in „Der Räuber Hotzenplotz“, Margarete von Trottas „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“ und jüngst neben Edgar Selge in Eileen Byrnes „Marianengraben“ bewundern.
Mittels Tildas innerem Monolog – aus dem Off zu hören – wird die Story erzählt, auch die Kamera konzentriert sich auf die sympathisch-empathische Protagonistin. Der Film ist kein voyeuristisches, plumpes Sozialdrama, vielmehr eine einfühlsame Persönlichkeitsstudie. Zugänglich, elegant, klug.
So manifestiert sich die Trunksucht der Mutter nicht in grölenden Rauschszenen, sondern in einem Einkaufsbeutel, der prall mit Schnaps- und Weinflaschen gefüllt ist. Genauso zurückgenommen wird der Grund für Ivans Tod in Rückblenden – von Jamin Benazzouz vorzüglich montiert – gezeigt, ebenso die erste zarte Annäherung zwischen Tilda und Viktor, die nachts ohne sich zu berühren eine schwach beleuchtete Straße entlanggehen.
Perfekt besetzt und auch technisch einwandfrei umgesetzt
Dass das alles so gut funktioniert, liegt auch am bis in die Nebenrollen – etwa US-Amerikanerin Eleanor Reissa als Ursula – hinein gut besetztem, perfekt harmonierendem Ensemble. Die vielseitige Wedler („Das schönste Mädchen der Welt“) gehört zu den talentiertesten Schauspielerinnen des deutschsprachigen Raums, der kantige, oft etwas farblose Niewöhner, der bereits bei „Je suis Karl“ gemeinsam mit ihr agierte, ist hier ideal besetzt. Die Chemie passt.
Die Charakterdarstellerin Tonke („Baader“) meistert ihren Part mit traumwandlerischer Sicherheit und ein Versprechen für die Zukunft ist die 11-jährige Augsburgerin Baier, deren Talent auch gerade in Mascha Schilinskis „In die Sonne schauen“ zu bewundern ist.
Ebenfalls tadelsfrei ist die technische Umsetzung. Kameramann Tim Kuhn („KRANK Berlin“) konzentriert sich in seinen Bildern auf Gesichter und Gesten, Dascha Dauenhauer („Islands“) mischt für ihren Score geschickt Raves, wummernde Bässe und sanfte Streicher. Das lässt auf die geplante Fortsetzung „Windstärke 17“ hoffen, basierend auf Wahls 2024 publiziertem Roman, bei der Meyer wieder auf dem Regiestuhl Platz nehmen soll.
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