Ukraine

Sein Vater verlangte: Töte Ukrainer – doch Ivan floh

Er ist erst 18 Jahre alt, als er flieht: Von Luhansk nach Kiew. Heute hilft er Jugendlichen, die wie er entkommen wollen. Die Geschichte einer Entscheidung.

Von 
Jan Jessen
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Ivan Sarancha lebt seit Januar 2025 in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. © Artem Lysak

Kiew. Da war dieser eine Abend vor drei Jahren, als Ivans Vater eine Flasche Schnaps auf den Tisch stellt und ihm sagt, er solle sich zu ihm setzen. „Was hältst du von dem Krieg?“, fragt er seinen Sohn. Ivan antwortet, er sei neutral, aber das stimmt zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr. Sein Vater sagt, wenn er ein Mann sein wolle, dann müsse er zur Armee gehen und Ukrainer töten. Es ist dieses Gespräch, das den Sohn endgültig mit seinem Vater brechen lässt. Er fühlt sich als Ukrainer. Nicht als Russe, wie sein Vater. Ivan beschließt, aus Luhansk abzuhauen. Raus aus der russischen Besatzung, weg von seinen Eltern.

Drei Jahre später sitzt Ivan in einem Zimmer in Hatne, einem Vorort von Kiew. Die Regale sind vollgestopft mit Spielzeug für die kleineren Kinder, die es mit ihren Eltern heraus aus der russischen Besatzungszone geschafft haben. Es ist eine Einrichtung der Organisation Save Ukraine, die sich für ukrainische Kinder und Jugendliche einsetzt, die nach Russland verschleppt wurden oder die unter der Besatzung leben. Über eine Million sollen es sein. An der Wand hängt eine Karte der Ukraine. Auch Luhansk ist darauf eingezeichnet, die Industriestadt, in der Ivan geboren wurde und aufgewachsen ist.

Zerstörtes Haus in Toschkiwka in der von Russland annektierten Region Luhansk. © REUTERS

„Ich war sieben Jahre alt, als der Krieg begann“, erzählt Ivan. Im Donbass rebellieren 2014 prorussische Separatisten gegen die neue proeuropäische Regierung in Kiew, angeführt von russischen Freischärlern um den Ex-Geheimdienstagenten Igor Girkin. Die Großstädte Donezk und Luhansk fallen. In Luhansk wird der Flughafen bei den Kämpfen zerstört, die Lokomotivfabrik stellt ihre Arbeit ein.

Geschäfte und Unternehmen in Luhansk werden geplündert. Viele Einwohner fliehen, um sich in Sicherheit zu bringen oder weil sie mit dem prorussischen Kurs der Separatisten nicht einverstanden sind. Die Saranchas bleiben. „Wir sind ständig umgezogen, weil mein Vater auf Arbeitssuche war. Es waren keine glücklichen Zeiten“, erinnert sich Ivan an seine Kindheit.

Ivans Vater hält die Machthaber in Kiew für „Nazis“

Der Vater, der zuvor sein Leben lang als Taxifahrer gearbeitet hatte, muss sich jetzt auf dem Bau als Tagelöhner verdingen. Ivans Eltern sind prorussisch eingestellt. „Eigentlich prosowjetisch“, sagt Ivan. „Sie wollten nicht, dass die Sowjetunion kollabiert.“ Sie sprechen Russisch, und für Ivans Vater sind die Menschen, die im fernen Kiew die Macht übernommen haben, „Nazis“.

Ich habe ab da zwei verschiedene Leben gelebt – offline und online.
Ivan

Als Kind glaubt Ivan den Erzählungen seiner Eltern und der allgegenwärtigen Propaganda. Er malt Bilder für die prorussischen Milizionäre und russischen Soldaten, die im Donbass gegen die Ukrainer kämpfen. Auf seinen Zeichnungen ist die ukrainische Fahne durchgestrichen, die russische Fahne weht von Gebäuden. Ab und an kommen Milizionäre in die Schule, sie warnen die Kinder, in die Wälder um Luhansk zu gehen. Die Ukrainer würden dort Minen auslegen.

Ivan wechselt sein Weltbild - durch Informationen aus Telegram

Sein Weltbild ändert sich 2022, mit dem Beginn der großen russischen Invasion. Er lebte damals in einem Dorf bei Moskau. Die Familie ist dorthin gezogen, damit er seinen Schulabschluss machen und studieren kann. Zu dieser Zeit sind die Abschlüsse in den selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk nicht viel wert. In der Schule, die er besucht, absolvieren die Jugendlichen militärische Trainings.

In dieser Zeit entdeckt Ivan im Internet Telegram-Kanäle, die ihm die andere Seite des Krieges zeigen. Proukrainische Kanäle. Er sieht die grauenhafte Zerstörung von Mariupol am Asowschen Meer, das zu Beginn der Invasion von den Russen erobert wird. Er sieht das Leid der Zivilbevölkerung. Er wird immer wütender auf die Russen und auf seinen Vater, der die Invasion unterstützt. „Ich habe meinen Eltern gesagt, dass ich in Luhansk studieren möchte.“ Also kehrt die Familie wieder in ihre Heimatstadt zurück.

„Ich habe ab da zwei verschiedene Leben gelebt – offline und online.“ Im Internet ist Ivan im Kontakt mit Ukrainern. Er weiß, dass es auch in Luhansk unter den noch etwa 400.000 Einwohnern Menschen gibt, die gegen die Besatzung sind. An manchen Wänden ist die ukrainische Fahne aufgesprüht oder Parolen wie „Luhansk ist Ukraine“. Aber auch dann, wenn er Menschen draußen trifft, von denen er annimmt, dass sie so denken wie er, spricht er nicht über seine Einstellung. „Es herrschte ein Klima der Angst.“ Ivan denkt immer wieder darüber nach, wie er in den nicht besetzten Teil der Ukraine gelangen kann. Er arbeitet, um Geld für die Flucht zu sparen, recherchiert im Internet, was nötig ist, um rauszukommen, besorgt sich seine Geburtsurkunde.

Ivans neue Mission in Kiew

Am 11. Januar 2025 macht er sich auf den Weg. Rostow am Don, Moskau, Minsk in Belarus, dann über die Grenze, eine Reise von vier Tagen. Er wird an der Grenze von den ukrainischen Grenzern lange verhört, sie misstrauen dem jungen Mann, er könnte ein Spion sein. „Aber ich hatte mich gut vorbereitet und war sehr überzeugend. Ich durfte einen Tag vor meinem 18. Geburtstag in die Ukraine rein.“

Heute arbeitet Ivan für Save Ukraine. Er ist Ansprechpartner für andere Jugendliche, die aus den besetzten Gebieten herauswollen, gibt ihnen Tipps, wie sie ihre Flucht organisieren können. „Ich habe schon einem Dutzend Menschen geholfen.“ Ab und an, sagt er, telefoniere er mit seiner Mutter. Nur dann spricht er noch Russisch, ansonsten nur noch Ukrainisch. Und wenn er seinen Vater wiedersehen würde? Er schaut abschätzig. „Ich würde ihm ins Gesicht schlagen.“

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