„Felder“ oder „Ränder“. „Häuser“, „Schnee“ – und „Umgebungen“. Ein-Wort-Titel sind charakteristisch für Jürgen Beckers frühe Prosabücher, Gedichtbände und Hörspiele. Experimentell, karg, in gewissem Sinne minimalistisch war das anfängliche Schreiben. Doch gerade der Minimalismus barg auch das Potenzial für Poesie. Einer Poesie der Schlichtheit und Schmucklosigkeit – nicht zuletzt der Genauigkeit, wie sie zumal Beckers Lyrik kennzeichnet. Und Lyriker ist er ja in erster Linie.
Gegenwart und Vergangenheit
1932 in Köln geboren, war Becker von 1960 an Teilnehmer der Treffen der Gruppe 47, die ihm 1967 ihren Preis zuerkannte. 2014 erhielt er den Büchnerpreis. Zum 90. Geburtstag des Schriftstellers (am 10. Juli) erschienen im Suhrkamp Verlag zwei Neuveröffentlichungen: eine Gesamtausgabe sämtlicher 17 Gedichtbücher sowie der neue Lyrikband „Die Rückkehr der Gewohnheiten“.
Daumenkino spielend, könnte man in dem Tausendseiter der Gesamtausgabe über weite Strecken den Eindruck gewinnen, in eine Sammlung von Versepen geraten zu sein: So sichtbar, schon im Seitenspiegel, tritt Beckers Vorliebe für das Langgedicht, das bei ihm zudem gern mit ausladend langen Verszeilen ausgestattet ist, hervor. Es ist die zu Inhalt und Stimmungslage dieser Lyrik passende lyrisch-prosaische Form. Handeln Beckers Gedichte doch vorwiegend vom Gewöhnlichen, Unspektakulären, den prosaischen Verhältnissen des Alltags.
Das gilt auch für die „Journalgedichte“ des neuen Bandes. Das Eingangsgedicht spricht von einer „Küchentisch-Chronik“ – und kommt am Ende geradezu programmatisch auf „all die Zusammenhänge“ zu sprechen, „ohne die / kein Wasserkessel summt, / der Bildschirm schwarz, die nächste Seite leer bleibt“. Nicht selten ist in den Gedichten vom Wetter die Rede, dem Klima, dessen Veränderung im Zuge einer poetischen Meteorologie zunehmend ins Bewusstsein dringt. „Warum in den Süden fahren? Hitzewellen rollen auf uns zu.“
In den zwischen Gegenwart und Vergangenheit oszillierenden Gedichten gehen Aktualität und Erinnerung, nicht selten in ein und demselben Satz, bruchlos ineinander über. Das „Früher“ hört nicht auf, „mitzusprechen“. Twitter und die Erinnerung an eine Zeit, „als einmal im Jahr das Telefon“ klingelte; das „Schweigen der Spätheimkehrer“ und die Nachrichten im Radio: „So lange kann“ das Vergangene „nicht her sein. / Die frühen Gewohnheiten sind weiterhin beteiligt.“
„Waren wir die Läuse los, bekamen wir die Krätze“, weiß noch der Dichter. In der Gegenwart sehen wir ihn, „hüpfend auf einem Bein, auf der Suche nach dem verlorenen Schuh“. Auch Corona macht zu schaffen. Das Virus bringt „endlose Warteschlangen“ in den Impfzentren und leere Wartezimmer, vor allem: den verheerenden Verlust an „wärmender Nähe, vertrautem Genuschel, Umarmung / und Küsschen“. Beckers Chronik der Gegenwart endet, wie sie begann: offen zum Leben. Und voll von Widersprüchen. „Vergessen, was man vergessen hat, geblieben, / was noch zu tun ist“: So sieht sie aus, die Wirklichkeit des Dichters. Und dieser unfrohen Zeit.
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