Chris Bradshaw war ein echter Mistkerl. Rücksichtslos auf seinen Vorteil bedacht, hat er sich im neuen Roman von Helmut Krausser, „Freundschaft und Vergeltung“, am Unglück seiner Mitmenschen geweidet. Lehrer und Mitschüler benutzte er, um möglichst viel Spaß zu haben. Mit erfundenen Affären hat er geprahlt und überdies seine reichen Eltern verhöhnt.
Auf Konventionen hat der Mann laut gepfiffen und eine Lunte ans autoritäre Bildungssystem gelegt. Aber er war auch ein kleines Genie. Konnte ganze Passagen von Shakespeares Werken auswendig, brachte sich selbst das Gitarrenspiel bei und komponierte politisch aufrüttelnde und erotisch anzügliche Songs, die es mit den angesagten Hits von Beatles und Stones, Kinks und The Who aufnehmen konnten.
Ein Cold Case im englischen Internat wird zur Obsession
Nachdem er von mehreren Schulen geflogen war, landete Chris im Herbst 1965 am altehrwürdigen Zöglingsinternat von Raven-Hall, einem ehemals prächtigen Schloss, das längst zu einer moribunden Bruchbude heruntergekommen war und nur mithilfe der großzügigen Spende von Vater Bradshaw überleben konnte, der mit seinem Geld den Mantel des Schweigens über seinen unehelichen Fehltritt mit einer der Lehrerinnen breiten wollte. Sie hieß Deborah Rodgers und verschwand zum Jahreswechsel 1965/66 genauso spurlos wie Chris Bradshaw.
Der Autor
Geboren wurde Helmut Krausser am 11. Juli 1964 in Esslingen. Er schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher und Musik.
Zu seinen bekanntesten Werken gehören „Der große Bagarozy“, „Melodien oder Nachträge zum quecksilbernen Zeitalter“, „Trennungen. Verbrennungen“, „Für die Ewigkeit“ oder „Wann das mit Jeanne begann.“
Krausser lebt in Berlin und Rom. Weil er von der Kritik geschätzt wird, ihm aber nie der große Publikumserfolg gelang, schrieb Daniel Kehlmann: „Krausser gehört gelesen, besprochen und mit Preisen bedacht, vor allem aber gehört er gelesen. Denn so viele Genies, dass man es sich leisten könnte, einen Helmut Krausser weiter zu ignorieren, gibt es in Deutschland nun wirklich nicht.“
Kurz vorher waren bereits die Leiterin des Internats sowie Mr. Bradshaw, der im Institut nach dem Rechten sehen und seinem Sohn Weihnachtsgeschenke überreichen wollte, der Welt abhanden gekommen, und sie wurden niemals wieder gesehen.
Was sich damals im verschneiten und nur schwer erreichbaren College abspielte, blieb viele Jahre ein unlösbares Rätsel - und wird es möglicherweise für immer bleiben. Denn Helmut Krausser zieht in seinem Roman „Freundschaft und Vergeltung“ alle Register der literarischen Verwirrung, entwickelt eine verzwickte Scharade, spielt mit Erwartungen und Vorurteilen - und macht damit seinen Leserinnen und Lesern zu seinem 60. Geburtstag am 11. Juli ein vielfältig schillerndes Geschenk.
Das Sprachrohr des Autors, der nicht nur Romane und Gedichte, sondern auch Opern-Libretti verfasst hat, heißt übrigens Anthony Brewer, damals Zimmerkumpan, bester und vielleicht einziger Freund von Teufelsbraten Chris. Nachdem Anthony 2015 als Anwalt in den Ruhestand tritt, will er den Cold Case wieder aufzuwärmen. Doch er rennt gegen Mauern des Schweigens und Vergessens, der gezielten Lüge und trüben Erinnerung.
Die Ermittlungen werden für Anthony, der seiner unerwiderten Liebe zum rebellischen Chris und zur unerreichbaren Deborah nachtrauert und nun die Leere des Alters und die Angst vorm Tod überwinden will, zur Obsession. Er schreibt Zeitungsartikel, gründet einen Internet-Blog, reist jeder Spur hinterher, befragt Zeitzeugen und zitiert aus den Polizeiakten.
Der Roman
Helmut Krausser: „Freundschaft und Vergeltung“
Berlin Verlag, 352 Seiten, 25 Euro
Helmut Krausser alias Anthony Brewer entwirft ein literarisches Puzzle aus Fakten und Fiktionen. Und er überlässt es dem Leser, sich eine eigene Wahrheit zurechtzulegen. Was aber damals wirklich geschah, ob Chris und Deborah ein Paar waren und zusammen das Weite suchten, ob die verknöcherte Institutsleiterin und der biedere alte Bradshaw ermordet wurden und tief vergraben im Wald von Raven-Hall liegen, ob vielleicht alle vier gemeinsame Sache gemacht und irgendwo ein neues Leben begonnen haben: Wer weiß das schon?
Alles ist möglich in diesem irrlichternden Roman über wilde Rebellion und verlorene Zeit, grenzenlose Fantasie und verblendete Liebe. Ein verrücktes Abenteuer. Unbedingt lesen!
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