Prag. Wie soll man sich Franz Kafka vorstellen? Im Vorgriff auf den Jubiläumstag konnte man ihm kürzlich auch gleich zweifach im Medium des Films begegnen. Die Schauspieler Joel Basman - in der „Kafka“-Miniserie der ARD - und Sabin Tambrea (in der Verfilmung des Romans „Die Herrlichkeit des Lebens“ von Michael Kumpfmüller über Kafkas letztes Liebesverhältnis) stellten den Weltautor aus Prag dar. Äußerlich betrachtet ähnelt dem echten Franz Kafka, der am 3. Juni vor 100 Jahren gestorben ist, eher der hochgewachsene Tambrea; aber natürlich sind die beiden neuen Verkörperungen vor allem einem Bild verpflichtet, das sich wiederum Schriftsteller von Franz Kafka machten - der erwähnte Kumpfmüller und im Fall der TV-Serie Daniel Kehlmann, der das Drehbuch schrieb.
Das geht deshalb in Ordnung, weil man einem echten Kafka ohnehin nur in der Literatur und im Medium der Kunst begegnen kann - am besten allerdings in derjenigen von Franz Kafka selbst. Nicht umsonst sagte der Autor von sich, dass er nur in seiner Literatur eigentlich existiere. Die neuen Verbildlichungen sind aber auch insofern aussagekräftig, da sie Zeugnis geben von Kafkas anhaltender Faszinationskraft.
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Der 1883 in Prag geborene Schriftsteller, der wegen eines Tuberkuloseleidens nicht einmal seinen 41. Geburtstag erlebte, beeindruckt nach wie vor nicht nur Lesende, sondern eben auch Schriftsteller. Größen wie Rilke und Musil zählten zu seinen ersten Bewunderern. Dass Kafka selbst die meisten seiner schriftstellerischen Arbeiten für ungenügend hielt, steht dazu in einem seltsamen Kontrast. Er forderte bekanntlich seinen Schriftstellerfreund Max Brod per Testament dazu auf, den literarischen Nachlass zu vernichten - und Brod widersetzte sich dem zum Glück.
Der Mensch als Opfer einer unpersönlichen Bürokratie
Kafka hat nur wenig von dem publiziert, was er vornehmlich des Nachts zu Papier brachte, wenn er seine Brotexistenz als Versicherungsjurist vorübergehend hinter sich lassen konnte. „Die Verwandlung“, von Kehlmann in der TV-Serie als berühmteste Erzählung des 20. Jahrhunderts charakterisiert, und „In der Strafkolonie“ erschienen zu Lebzeiten, zudem einige kurze Erzähltexte wie „Das Urteil“ oder „Vor dem Gesetz“, der ein kleiner Auszug aus dem Romanfragment „Der Process“ ist. Dieses unvollendete Buchprojekt begründete dann neben den beiden anderen großen Prosafragmenten „Der Verschollene“, früher unter dem Titel „Amerika“ bekannt, sowie „Das Schloss“ in den von Max Brod besorgten Editionen endgültig Kafkas Weltruhm.
Vor wenigen Jahrzehnten, als der literarische Blick noch weniger globalisiert war als heute, konnte man leichthin behaupten, die einflussreichsten und wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts seien eben Franz Kafka und außerdem noch Samuel Beckett. Beiden wurde immer wieder bescheinigt, dass sie die Situation des Menschen ihrer Zeit in passende Bilder fassten - ausgehend von eigenem Empfinden, das sie entsprechend zuspitzten. Die Philosophin Hannah Arendt meinte in diesem Sinne, Kafkas Welt sei unserer Wirklichkeit angemessen. Demnach porträtierte Kafka den zeitgenössischen Menschen in einer verwalteten Welt. Opfer einer unpersönlichen Bürokratie ist er, die ihn drangsaliert und ihm, wie im Falle der Figur Josef K., buchstäblich den Prozess macht. Gewissheiten gibt es hier nicht. Und die am Anfang des Romans geäußerte Vermutung in der berühmten Formulierung: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“ - sie findet bis zum Ende weder eine Bestätigung noch wird sie widerlegt.
Kafka macht die Schwierigkeit, sich in einer unübersichtlichen Welt zurechtzufinden und sich überhaupt mit Denken und Bewusstsein zu orientieren und so erst selbst zu behaupten, zum Thema seiner Texte. Das landläufige Verstehen wird in Kafkas einem Juristen angemessen sachlicher und exakter Sprache Satz für Satz infrage gestellt. Auch insofern trägt der „Process“-Roman seinen Titel ganz mit Recht.
Was sich an Kafka zudem par excellence demonstrieren lässt: Die Sprache der Kunst und Literatur, die auf Metapher, Symbol und gleichnishaften Reden aufbaut, ist ein eigener Erfahrungs- und Wirklichkeitsraum. „Die Verwandlung“ heißt deshalb so, weil sich die Hauptfigur Gregor Samsa „eines Morgens (…) zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt (fand)“.
Die Familie behandelt ihn nicht, als ob er eins wäre; für sie - und ebenso für Gregor selbst und den Leser - ist er eins. Der Roman „Das Schloss“ erzählt nicht nur von einem Schloss; er ist selbst das Verschlossene. Und er ist jedenfalls nicht dadurch „aufzuschließen“, also schlüssig zu interpretieren, dass man sich ihm wie jener Landvermesser K., seine Hauptfigur, nähert, der berechnend und zielgerichtet an die Sache herangeht. Diese entfernt sich dadurch viel eher, als dass sie näher rückte.
Im programmatisch „Gibs auf!“ betitelten Kurzprosastück fragt der Ich-Erzähler einen „Schutzmann“ nach dem Weg, worauf dieser nur sagt: „Gibs auf, gibs auf.“ Schutz, Orientierung, Selbstvergewisserung gewährt er gerade nicht. In Frage gestellt sind damit auch alle Versuche, sich in gewohnter Weise - zwei Uhren erwähnt Kafka deshalb - der Welt und Wirklichkeit zu nähern.
Davon erzählt auch der kurze, aber hochkomplexe Text „Von den Gleichnissen“, dessen Titel man auch auf die Religion beziehen darf, nämlich auf die Gleichnisse Jesu. Vom Gegensatz der „Worte der Weisen“ und dem täglichen Leben, in dem diese Worte „unverwendbar“ seien, ist hier die Rede. Der Text bezieht sein irritierendes Potenzial daraus, dass er zwischen beiden Wirklichkeitsbereichen hin und her springt. Das unterstreicht, dass es zwischen beiden Weisen der Realität, des Weltzugangs und Sprechens keine echte Vermittlung gibt.
So ist es eben auch mit der Literatur Franz Kafkas insgesamt, die so zahlreiche Deutungen erfahren hat. Biografische, auf die schwierigen Familienverhältnisse bezogene Interpretationen wurden vorgelegt, tiefenpsychologische oder auch solche, die sich besonders den religiösen Motiven der Texte widmen. Alle zusammen bezeugen vor allem eines - dass dieser Autor, der an den jüdischen Wurzeln seiner Familie durchaus interessiert war, immer wieder zur Auseinandersetzung einlädt. Und er vermag stets aufs Neue zu faszinieren. Filmische Annäherungen bieten eine Ergänzung. Aber wirklich angemessen begegnet man Franz Kafka einzig in seinen Texten.
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