Mannheim. Die Gesellschaft in Gänze und in Teilen fest im Blick zu haben, ist seit jeher vornehmster Anspruch des Theaters, zumindest des Sprechtheaters. In Komödien, Tragödien und Burlesken geschah dies über die entlarvende Darstellung des kleinsten Gliedes der Gemeinschaftskette: des Menschen. Dessen Fehlbarkeiten, Charakterschwächen und moralische Untiefen bieten freilich Material genug, um als pars pro toto, also als Teil für das Ganze zu sprechen.
Das Theater wolle, so heißt es oft, der Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Im Studio Werkhaus des Mannheimer Nationaltheaters hat Bühnenbildnerin Una Jankov diesen Anspruch wörtlich genommen. Eine bühnenbreite Spiegelwand steht zur Premiere von „Generation Lost“ nah an der ersten Publikumsreihe, was den 100-Minüter über weite Strecken zum klassischen Vorbühnenabend macht.
Die Schaulust am Frust der „Generation Warum“
Im Rahmen des Projekts „New Stages South East“ erfährt hier das vom griechischen Autor Greg Liakopoulos in sieben Bildern erfasste Lebensgefühl der Millennials seine deutschsprachige Erstaufführung. Der prägende Buchstabe der Alterskohorte der „Jahrtausender“ ist das auf Englisch „why“ (wie „warum?“) gesprochene Y. Diese Frage scheint also prägend für die Leben der als „Generation Y“ bezeichneten Geburtsjahrgänge der frühen 1980er bis 1990er.
Der Autor
- Greg Liakopoulos wurde 1986 in Athen, Griechenland geboren. Er arbeitet als Dramatiker, Regisseur, Dramaturg, Schauspieler und Übersetzer.
- Sein Stück über den griechischen Bürgerkrieg, „Die Pest“, wurde 2016 beim Festival der Experimentellen Bühne des Nationaltheaters von Griechenland aufgeführt.
- Er hat zahlreiche deutschsprachige Stücke ins Griechische übersetzt, darunter Werke von Sibylle Berg, René Pollesch, Rainer Werner Fassbinder und Frank Wedekind.
- Weitere Aufführungen am 24. April sowie am 12. und 30. Mai, jeweils 20 Uhr. Karten telefonisch unter 0621/16 80 150.
Warum abrackern? Keine Stellen, keine Perspektiven, zerbrochene Ideologien in Ost und West, gescheiterte Elternehen, instabile Partnerschaftsoptionen, desolate Wirtschafts- und Soziallage. Man ist mit der Gesamtsituation unzufrieden. Doch die desillusionierte Jugend, sozialisiert um die Jahrtausendwende, die jetzt um die 40 ist, fand - wie jede Generation vor und nach ihnen - Trost. War man den Teletubbies und Tamagotchis entwachsen, ging es mit medialem Opium weiter: Popmusik (Backstreet Boys, New Kids on the Block, Spice Girls), TV-Sitcoms („Friends“) und natürlich der „Game Boy“.
Britney Spears, Friends und Allen Ginsberg sind ins Stück eingewoben
Der Rahmen für Regisseur Branko Janack steckt sich mit Blick ins Textbuch quasi von selbst. Doch er weiß ihn geschickt auszufüllen. Erst nach einigen Minuten entlarvt sich die erste Spielszene des Mimen-Trios aus Annemarie Brüntjen, Leonhard Burkhardt und Davis Smith durch eingespielte Studio-Lacher als nachgespielte „Friends“-Folge.
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Dann kommt der große Monolog der Widmungen, der auch gleich die doch recht schlichte Struktur des gesamten Stücks entlarvt. Leonhard Burkhardt hält ihn beim Gang durch die Publikumsreihen jovial und charmant, wenn auch mit mehr als verzeihlichen Texthängern. Das Schwierigste an diesem Text sind hunderte von griechischen Vornamen, denen die Zuordnung von exemplarischen „Schicksalen“ folgt - und zwar im immerwährenden Relativsatz.
„Das hier“ - gemeint ist der folgende Teilsatz selbst oder ein angespielter Pop-Song-Fetzen von Britney Spears - „ist für ...“ Dann folgen schier endlose Namens- und Eigenschaftsreihungen: „Yorgos, der bei seinen Eltern wohnt / Petros, der sich schämt, weil er mit zwanzig immer noch Jungfrau war / Kassandra, die ein Mittel gegen Krebs finden will / Takis, der vor Keimen und Viren Angst hat und sich zwölfmal am Tag die Hände wäscht / Katerina, die die tollsten Stories auf Instagram postet.“
Es geht ihnen nicht anders wie Generationen vor ihnen. Eingestrickt sind folglich Zitate von Allen Ginsberg, dem prägenden Poeten der Beat Generation: „Ich sah die besten Köpfe meiner Generation, zerstört von Wahnsinn, hungernd hysterisch, nackt...“ Bei Greg Liakopoulos heißt es 50 Jahre später anders: „Ich sah, wie sie bis in ihre Vierziger noch Videospiele zockten. Wie sie bei ihren Eltern wohnten. In ihren Kinderzimmern. Wo auf dem Weg zur Arbeit vergilbte Poster von Britney Spears und Michael Jordan grüßten. Ich sah, wie sie von der Rente ihrer Eltern lebten. Wie sie auf Partys zu Guilty-pleasure-Achtziger-Hits tanzten.“ Diese Generation scheint verloren, kein eigenes Selbst zu haben.
Unterhaltsame Szenen mit großen Schauspiel- und Tanzleistungen
So einfach Liakopoulos’ Textstruktur, so fein seine Beobachtungen des Milieus und deren sprachliche Zusammenfassung. Dazwischen griechische Finanzkrise und Corona. Die Lust am Frust nimmt Fahrt auf. Wie dem Elend entrinnen? Zum Glück gibt es Unterhaltung - und Werbung. David Smith entpuppt sich als sängerische Stimmungskanone für ewig erinnerliche Werbe-Jingles der 90er: „Hinein ins Weekend-Feeling!“ mit Bratmaxe, Zott Sahnejoghurt und Schöfferhofer Weizen! Der Saal tobt.
Als sich Annemarie Brüntjen, dann noch in Britney Spears verwandelt und mit den beiden Kollegen exzellent tanzt, gibt es kein Halten mehr. Ein Abend mit Kultpotenzial - zumindest für Millennials und ihr kurioses Lebensgefühl ...
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