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Macher geben neues Werk für "Mannheim liest ein Buch" bekannt

Die erste Auflage von „Mannheim liest ein Buch“ mit Tahas „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ ist zu Ende. NTM-Intendant Christian Holtzhauer und Germanistikprofessor Thomas Wortmann bilanzieren - und blicken nach vorn

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Stefan M. Dettlinger
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Haben sich auf Dmitrij Kapitelmans „Eine Formalie in Kiew“ verständigt: Christian Holtzhauer (links) und Thomas Wortmann. © dms

Mannheim. Herr Holtzhauer, Herr Wortmann, die erste Runde von „Mannheim liest ein Buch“ ist vorbei. Welche Erfahrungen haben Sie in den vergangenen sechs Monaten mit der „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ gemacht?

Thomas Wortmann: Sehr gute. Besonders gefreut haben uns die positiven Rückmeldungen aus den Schulen. Dort haben die Lehrkräfte Großartiges geleistet. Wir haben viele junge Leserinnen und Lesern erreicht, die sonst eher weniger in Literaturveranstaltungen sind.

Sie wollten die Breite der Gesellschaft erreichen. Ist das gelungen?

Wortmann: Ja, das Publikum bei den Veranstaltungen war bunt zusammengesetzt. Mehr geht natürlich immer, fürs Erste sind wir aber zufrieden.

Die Autorin Karosh Taha war mit ihrem Buch "Beschreibung einer Krabbenwanderung" Teil der ersten Auflage von "Mannheim liest ein Buch". © Jens Kalaene/dpa

Das Buch ist also das gewesen, was Sie sich gewünscht hatten?

Christian Holtzhauer: Wir haben nicht das Buch gesucht, auf das sich alle in Mannheim einigen können, sondern eines, von dem wir dachten: Dieses Buch sollte in Mannheim gelesen werden. Die Resonanz war für den Anfang gut und ist eine vielversprechende Basis, um weiterzumachen.

Haben Sie Zahlen? Wie viele Leute waren auf Veranstaltungen? Wie viele Bücher wurden verkauft?

Holtzhauer: Das wissen wir nicht. Es war ein Projekt mit zahlreichen Partnern, die ihre Veranstaltungen eigenverantwortlich organisiert haben. Es gab auch Veranstaltungen, von denen wir erst im Nachhinein erfahren haben – etwa an der Popakademie. Das Buch mäanderte schon durch die Stadt.

Thomas Wortmann und Christian Holtzhauer

  • Thomas Wortmann: 1983 in Schleiden (Eifel) geboren, hat Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und Politikwissenschaft studiert. Seit 2018 ist er Professor für Neuere Germanistik an der Uni Mannheim.
  • Christian Holtzhauer: 1974 in Leipzig geboren, hat Musik- und Theaterwissenschaft studiert. Er ist Schauspielintendant am Nationaltheater Mannheim.

 

Karosh Taha selbst war ja nicht gerade sehr präsent. Sie, Herr Holtzhauer, haben das auch ein bisschen dem „Mannheimer Morgen“ angelastet, dem Interview, das ich mit Frau Taha geführt habe, und der Doppelseite mit den Eindrücken der Kolleginnen und Kollegen. Hat Taha das selbst gesagt?

Holtzhauer: Wir wollten das Buch in den Mittelpunkt stellen, nicht die Autorin. Uns hat mehr interessiert, welche Veranstaltungsformate man aus dem Buch ableiten kann – von der Theateraufführung an einer Schule über ein kurdisches Gastspiel im NTM bis hin zum Gespräch mit Mitarbeitenden des Zentralinstituts für seelische Gesundheit. Das Buch hat sich also von der Autorin entkoppelt und verselbstständigt. Dass in Ihrem Medium teils mit einem Vokabular operiert wurde, von dem ich nicht wusste, dass es das noch gibt

… was meinen Sie?

Holtzhauer: Etwa „Migrantenliteratur“. Sollte es diesen Begriff je gegeben haben, dann war er schon damals falsch. Bücher mit solchen Zuschreibungen sofort in Schubladen einzusortieren, halte ich nicht für sinnvoll. Überrascht war ich von der Verengung der Rezeption auf das Ringen der jungen Protagonistin um sexuelle Selbstbestimmung.

Der neue Autor der Aktion "Mannheim liest ein Buch": Dmitrij Kapitelman. © Christian Werner

Herr Wortmann, es gibt Dissertationen zu Migrantenliteratur. Ich meine auch, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sie bei der Schillerpreisverleihung erwähnte.

Wortmann: … Steinmeier hat von „migrantischer Literatur“ gesprochen, das ist ein Unterschied, weil damit ein Thema bezeichnet wird, um das Texte von Taha oder Özdamar kreisen. Man nutzt „Migrationsliteratur“ wie auch „Frauenliteratur“ nicht mehr, weil damit die Texte auf Herkunft oder Geschlecht der Autoren reduziert wird. Frau Taha war nicht nur zum Auftakt da, sie hat auch an der Uni in einem Workshop einen Tag mit Studierenden gearbeitet.

Ist das Projekt steigerungsfähig?

Holtzhauer: Natürlich. Das war ein erster Aufschlag mit viel Enthusiasmus, wenig Erfahrung und kaum Geld. Nur das Mannheimer Kulturamt hat an uns geglaubt. Viele Menschen, mit denen wir im Vorfeld gesprochen haben, haben gesagt: Vergesst es, das ist zu kurzfristig, man kriegt eh nie alle an einen Tisch. Wenn wir darauf gehört hätten, hätten wir gar nicht erst angefangen. Haben wir aber trotzdem – und machen jetzt weiter.

Im Oktober gibt es also die zweite Auflage? Womit?

Wortmann: Wir haben Dmitrij Kapitelmans „Eine Formalie in Kiew“ ausgewählt, wieder der Linie folgend: Es soll ein Text zu aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen sein. Der Krieg gegen die Ukraine geht uns alle an, nicht zuletzt wurden auch in Mannheim viele Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Es ist ein Text, der die Ukrainefrage diskutiert, obwohl es nicht direkt um den Krieg geht.

Dmitrij Kapitelman

  • Dmitrij Kapitelman wurde 1986 in Kiew geboren, kam mit acht Jahren als „Kontingentflüchtling“ mit seiner Familie nach Deutschland.
  • Er studierte in Leipzig und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. Heute arbeitet er als freier Journalist. 2016 erschien sein erstes, erfolgreiches Buch „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“, mit dem er den Klaus-Michael Kühne-Preis gewann. „Eine Formalie in Kiew (2021) wurde mit dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag geehrt.

Worum geht es ganz konkret? Was hat Sie ästhetisch überzeugt?

Wortmann: Der Text gliedert sich in zwei Teile. Er handelt von einem Protagonisten, der in die Ukraine fährt, weil er für die Einbürgerung in Deutschland eine Geburtsurkunde braucht. Ihm wird gesagt, für diese Formalie müsse er alle möglichen Leute schmieren und sich viel Zeit nehmen. Angekommen in Kiew merkt er, dass das Verfahren vollkommen problemlos ist. So nutzt er die Zeit, um den Spuren seiner Kindheit in der Ukraine zu folgen. Das ist der erste Teil. Der zweite handelt davon, dass der Vater schwer erkrankt und in die Ukraine muss, weil er in Deutschland keine Krankenversicherung hat. Es ist ein Roman, der einen spannenden, ganz eigenen Blick auf Deutschland und die Ukraine entwickelt. Das Buch ist komisch und traurig zugleich, unglaublich gut geschrieben. Es kann für ganz verschiedene Zielgruppen interessant sein.

Holtzhauer: Es ist ein Familienroman, nämlich die Auseinandersetzung eines jungen Mannes mit seinen Eltern. Es ist auch ein Roman über Deutschland, auch über die rigide und ungerechte Einwanderungspolitik, und es ist ein Buch über die Ukraine, ein Land, das den meisten Deutschen bis vor Kurzem wohl eher fremd war. Das Buch spannt einen Bogen von den 1990er Jahren, als Kapitelmans Eltern nach Deutschland kamen, bis in die Zeit nach der Krim-Annexion und erzählt viel über die politischen Umwälzungen im Osten Europas, deren Konsequenzen wir bis heute spüren. Und was Kapitelman mit anderen Autoren wie Sasa Stanisic verbindet: Er hat ein unglaubliches Gespür für den Klang, die Eigenarten und Absonderlichkeiten der deutschen Sprache.

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Was wird in der zweiten Ausgabe anders? Was können wir, Partner, Wohlgesonnene, Interessierte besser machen?

Wortmann: Ich hätte gern Kunsthalle oder Mannheimer Kinos als Partner dabei. Ausgehend vom Text könnte man eine Filmreihe zum Krieg in der Ukraine seit 2014 organisieren. Und wir suchen noch Sponsoren.

Holtzhauer: Wir wollen den Zeitraum kürzer fassen und das Projekt auf Oktober und November beschränken. Wir brauchen eine stabilere Infrastruktur, bisher machen wir das ja alles nebenbei. Über eine erneute engmaschige Begleitung durch Ihre Zeitung freuen wir uns auch. Ich fand die persönlichen Perspektiven aus Ihrer Redaktion sehr spannend, aber vielleicht lässt sich ja die vielfältige Leserschaft in dieser Stadt noch besser abbilden.

Sie brauchen also Geld – wie alle anderen auch?

Wortmann: Ja, für Dinge wie Homepage, Plakate, Flyer, die wir nicht aus unserem normalen Etat bezahlen können, benötigen wir Geld. So wie wir aktuell aufgestellt sind, fallen wir leider durch alle Förderungsraster.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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