Es sei „Deutschlands wunderbarstes und sinnvollstes Lesefest!“, attestierte „Die Zeit“ dieser Aktion – allerdings ihrer Frankfurter Ausgabe. Nun heißt es auch in Mannheim „Eine Stadt liest ein Buch“, und dieses Buch ist die „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ von Karosh Taha – ein Roman, in dem die junge, aus dem Nordirak stammende Taha rauschhaft und witzig von kurdischen Immigranten in einem Hochhaus am Stadtrand erzählt, von den Träumen und dem Freiheitsdrang der Ich-Erzählerin Sanaa, von ihrer Familie, Freunden, Sexualität – und dem Zwiespalt, all das endlich hinter sich zu lassen, es aber nicht zu können.
Herr Wortmann, wie sind Sie auf Karosh Taha gekommen?
Thomas Wortmann: Wir haben ein ästhetisch starkes Buch gesucht, das Themen behandelt, die für unsere Gesellschaft im Allgemeinen und für die Mannheimer Stadtgesellschaft im Speziellen von Bedeutung sind. Beide Anforderungen erfüllt Karosh Tahas Debüt. Es handelt sich um eine fulminant erzählte Coming-of-age-Geschichte, die um Fragen der Identitätsfindung im Hinblick auf Geschlecht, Klasse und Herkunft sowie um das Verhältnis zur Familie und zu deren traumatischer Geschichte kreist. Das sind Themen, die im Kontext des Ukraine-Krieges eine traurige Aktualität erhalten haben. Dass dieses Buch von einer Autorin geschrieben wurde, sprach außerdem für die „Beschreibung einer Krabbenwanderung“, denn Texte von Frauen erhalten bei den Verlagen und in der Kritik immer noch weniger Aufmerksamkeit als Texte von Autoren.
Finden Sie, dass das Buch für die Schule geeignet ist, dass es jugendfrei ist? Immerhin ist die Ich-Erzählerin nymphomanisch veranlagt und hört ihrer kleinen Schwester nachts beim Masturbieren zu …
Wortmann: Da haben Sie einen vollkommen anderen Text gelesen als ich. Die Protagonistin lebt ihre Sexualität aus, mit unterschiedlichen Partnern – und das wird im Roman auch explizit erzählt. Als nymphomanisch würde ich das auf keinen Fall bezeichnen. Hätten wir es mit einem männlichen Protagonisten zu tun, wäre dieses sexuelle Verhalten wahrscheinlich gar kein Thema. Oder es würde vielleicht als detaillierte, genaue Schilderung eines aktuellen Lebensgefühls und Liebeslebens beschrieben werden.
Thomas Wortmann und „Mannheim liest ein Buch“
- Thomas Wortmann: Der 1983 geborene Wortmann hat Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und Politikwissenschaft in Bonn, St. Louis und Köln studiert. Er promovierte an der Universität in Köln, arbeitete danach an Universitäten im In- und Ausland, war ab 2013 Juniorprofessor in Mannheim und ist dort seit 2018 Inhaber des Lehrstuhles für Neuere Germanistik II.
- Die Aktion: Nachdem sich die Aktion „Eine Stadt liest ein Buch“ bereits in mehreren deutschen Städten bewährt hat, findet sie 2022 erstmals auch in Mannheim statt. Die Universität Mannheim kooperiert dabei mit dem Nationaltheater, der Stadtbibliothek und der Alten Feuerwache sowie mehreren Schulen, Vereinen und Initiativen. Die Aktion soll von Oktober 2022 bis März 2023 laufen. Oberbürgermeister Peter Kurz ist Schirmherr. Die Idee stammt laut Universität von Thomas Wortmann, seiner Kollegin Sandra Beck und der Autorin Elisa Diallo.
- Veranstaltungen: Auftakt der Veranstaltungsreihe ist am 12. Oktober, 19 Uhr, in der Aula der Universität Mannheim. Autorin Karosh Taha wird aus ihrem Buch lesen, im Anschluss gibt es ein Podiumsgespräch. Es sollen weitere 24 Veranstaltungen folgen. Die Mannheimer Germanistik bietet im Herbst-/Wintersemester auch ein Hauptseminar zu den Texten Karosh Tahas an.
- Info: mannheimliesteinbuch.de
Okay, nymphomanisch ist vielleicht etwas übertrieben, aber doch sehr süchtig nach Sexualität.
Wortmann: Ob sie süchtig nach Sex ist, ließe sich diskutieren. Und ihrer Schwester hört sie jedenfalls zu, weil die beiden sich ein Zimmer teilen müssen. Das ist also eher eine Klassenfrage als ein Zeichen der Perversion. Die Rückmeldungen aus den Mannheimer Schulen, in denen der Text gelesen wird, sind durchgehend positiv. Und an der Stelle muss man auch ehrlich sein: Jugendliche können heute mit zwei Klicks im Internet Texte und Bilder finden, gegen die alles im Roman Geschilderte vollkommen harmlos ist. Dass Tahas Roman Sexualität in dieser Weise direkt thematisiert, spricht also nicht gegen, sondern für den Roman.
Welche Klassen lesen das Buch?
Wortmann: Meine Kollegin Sandra Beck und ich betreuen die Veranstaltungen an der Universität, in den Schulen engagieren sich die Lehrerinnen und Lehrer für „Mannheim liest ein Buch“. Sie kennen ihr Publikum und haben große Expertise dazu, was im Unterricht funktioniert, was man mit Schülerinnen und Schülern lesen kann – und was nicht. Die „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ wird in der Oberstufe gelesen, auch in Theater-AGs, und der Text kommt da gut an.
Der Text ist stark und spannend erzählt. Er zielt auf ein junges Lesepublikum. Wie, glauben Sie, reagiert das Bürgertum darauf, wie die muslimische Community?
Wortmann: Ich hoffe sehr, dass der Text ein junges Lesepublikum erreicht, und bin gleichzeitig davon überzeugt, dass er auch für Leserinnen und Leser in anderen Altersstufen interessant sein kann. Das Buch hat Provokationspotenzial, keine Frage. Das Schöne an Literatur ist aber doch, dass Texte nicht auf einen Rezipientenkreis beschränkt sind. Literatur ist ein Medium zur Vermittlung von Alteritätserfahrung. Wenn ich einen Text lese, denke ich mich in eine Welt ein, die in manchen Fällen mit meiner Welt gar nichts zu tun hat. Ich bin vielleicht mit ethischen, religiösen, sexuellen Standpunkten konfrontiert, die nicht meine sind, mit denen ich mich aber für einen gewissen Zeitraum auseinandersetze. Das ist keine schlechte Übung für gesellschaftliches Zusammenleben.
Und das ist das Ziel der Aktion?
Wortmann: Unser Ziel ist, dass Mannheimerinnen und Mannheimer mit unterschiedlicher Herkunft, aus unterschiedlichen Altersgruppen, aus unterschiedlichen Religionen über ein Buch ins Gespräch kommen. Und dabei sind Streitgespräche gar nicht ausgeschlossen.
Okay, das ist ja alles richtig, Streit ist gut, aber wenn man mit Kultur, und in diesem Falle Literatur, die Gesellschaft näher zusammenbringen will, muss auch ein gewisses Konsenspotenzial da sein, damit sich die Leute überhaupt mit etwas beschäftigen wollen. In Mannheim leben neben Deutschen vor allem Türken, Italiener und Bulgaren. Die Frage ist, ob man die erreicht, ob die das Buch lesen, oder ob am Ende doch wieder nur eine jüngere Bildungselite über „die Anderen“ oder „die Fremden“ spricht. Wie wollen Sie das anstellen?
Wortmann: Das stimmt. Es gibt auch eine große kurdische Community, die wir gerne erreichen wollen. Um also von der Theorie in die Praxis zu kommen: Wir arbeiten mit Quartiersmanagern zusammen, binden sie auch bei Gesprächen und Podiumsdiskussionen ein. KulturQuer wird einen Workshop in der Neckarstadt-West anbieten. Das Nationaltheater wird mit seinen Aktionen zum Teil in Wohn- und Hochhäuser gehen, um Lesungen zu veranstalten. Die Stadtbibliothek richtet sich mit Teilen ihres Angebotes explizit an die türkische, die irakische und die kurdische Community. Der KulturAsta der Uni Mannheim wird ein Programm machen, bei denen Studierende mit Fluchterfahrung zu Wort kommen, neben Gymnasien versuchen wir auch Berufsschulen für „Mannheim liest ein Buch“ zu begeistern. Außerdem wird die Aktion möglichst barrierefrei gestaltet: Daria Holme vom Eintanzhaus hat organisiert, dass 200 Bücher in Ausleihstationen in der Stadt verteilt werden, die als Wanderbücher funktionieren. Viele der Veranstaltungen sind kostenfrei und wir hoffen, dass es auch keine Schwellenangst geben wird, was die Veranstaltungen in der Uni angeht.
Klingt nach einer Mega-Aktion, die nach einem riesigen Abschluss-Event ruft ...
Wortmann: Ja, allerdings war bereits die Finanzierung der Auftaktveranstaltung und der Webseite (siehe Kasten) so ein Abenteuer, dass wir aktuell über ein Abschluss-Event noch nicht nachdenken.
Kann man da als Quereinsteiger noch mitmachen?
Wortmann: Ja, sehr gerne. Wer mitmachen möchte, kann jederzeit eine Mail an info@mannheimliesteinbuch.de schreiben.
Sie haben viele Kooperationspartner. In Frankfurt waren auch die Stadt, das Land und einige Medien dabei. Wieso fehlen die bei Ihnen?
Wortmann: Die Stadt ist dabei, denn der Oberbürgermeister übernimmt die Schirmherrschaft und das Kulturamt unterstützt die Aktion finanziell. Vielleicht nimmt sich das Land daran ein Beispiel? Das würde uns jedenfalls freuen. Der Kreis der Beteiligten ist nicht geschlossen. Sehr gerne nehmen wir auch noch Medienpartner auf – zum Beispiel den „Mannheimer Morgen“?
Wie evaluiert man so eine Aktion?
Wortmann: Im Frühjahr, wenn alles vorbei ist, werden sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen und dann sammeln wir Feedback. Es wird sicherlich darum gehen, wie gut die Veranstaltungen besucht werden. Aber es soll nicht ausschließlich um quantitative Aspekte gehen. Wichtig wird uns auch sein, wie die Qualität der Veranstaltungen war, wie die Reaktionen des Publikums waren, ob es zu einem guten Austausch gekommen ist, ob Diskussionen stattfanden. „Mannheim liest ein Buch“ ist im Jahr 2022 ein Versuch. Wenn alles gut läuft, soll die Aktion jedes Jahr stattfinden und Schritt für Schritt wachsen.
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