Heidelberg. Herr Windrich, beruflich improvisieren Sie wohl eher selten. Lassen Sie sich auf die Improvisation eines spontanen Interviews ein?
Ekkehard Windrich: Sehr gern. Als Geiger habe ich früher übrigens viel improvisiert. Nie tonal, immer atonal bis geräuschhaft.
Atonal improvisieren stelle ich mir sehr leicht vor …
Windrich: Stimmt, das kann jedes Kind. Für Erwachsene ist es aber etwas schwerer. Das Wichtigste bei der Improvisation ist: Wenn mir nichts mehr einfällt, höre ich auf zu spielen. Stille ist auch interessant.
Wenn Sie schweigen, atonal improvisieren oder Geräusche machen - wie viele Leute kommen da?
Windrich: (lacht) Im Gegensatz zu Ihnen zähle ich das Publikum nicht.
Das ist weniger frustrierend.
Windrich: Nein, aber als ich in Den Haag in einem elektroakustischen Improvisationsensemble gespielt habe, hatten wir bis zu 300 Zuhörer.
Jetzt leben Sie in Käfertal. Davor waren Sie in Berlin und Salzburg, wo die Szenen wesentlich ausgeprägter sind. Warum?
Windrich: Die Szene hat mich am Ende nicht mehr so sehr interessiert. Ich bin in die Region gekommen, weil ich Dirigent werden wollte und Walter Nußbaum mich geholt hat. Da konnte ich viel lernen. Dirigentisch, aber auch Gesang war für mich lange Zeit ungewohnt, ich habe mich schon als Kind geweigert zu singen …
… dann sind Sie ja bei der Schola gut aufgehoben …
Windrich: … mittlerweile weigere ich mich auch nicht mehr, das würde natürlich nicht mehr gehen.
Sie waren wieder Teil der Musikbiennale der Metropolregion, die sehr schlecht besucht war, was ich geschrieben habe, dann wollten Sie mit mir reden. Weshalb?
Windrich: Weil Sie wichtige Fragen gestellt haben, die noch größere Fragen nach sich ziehen und das kritische Dasein der zeitgenössischen Musik betreffen. Es entsteht im öffentlichen Raum gern der Eindruck, dass es uns Wurst ist, wie viele uns zuhören. Das ist überhaupt nicht so. Wir sind sehr selbstkritisch und versuchen viel. Viele Faktoren können wir aber nicht beeinflussen. Drastisch ausgedrückt: Die Verankerung klassischer Musik in der Gesellschaft ist längst nicht mehr, wie sie war.
Dem würde ich sofort widersprechen. Es gibt allein in Mannheim immer mehr Konzerte und Reihen mit klassischer Musik - und alle sind sehr gut gefüllt. Das heißt: Da gehen immer mehr Leute hin.
Windrich: Ein Beispiel: Mein Vater war kein Musiker, aber ein Musiknarr. Er hat sich beim Wache-Schieben bei der Bundeswehr mit seinem Kumpel darüber unterhalten, welche Einspielungen der Sinfonien von Bruckner oder Beethoven die besseren sind. Das gibt es, glaube ich, heute nicht mehr.
Da kann ich nicht kontern. Aber Sie wollen die Nische vergrößern. Was versuchen Sie?
Windrich: Zum Beispiel über soziale Medien. Da sind wir sehr aktiv. zum Beispiel startet in Kürze unser VLOG mit dem schönen Titel „Elfenbeinturm“.
Das letzte Konzert, das ich mit Walter Nußbaum im Betriebshof gehört habe, war etwa von 30 Leuten besucht. Das reicht Ihnen?
Windrich: Nein, ich würde da gern eine Null dranhängen. Wenn wir aber sogenannte Sandwich-Programme machen mit Mahlers „Lied von der Erde“ etwa, dann kommen auch nicht gleich Hunderte. Obwohl unsere Konzerte gut sind, Ihren Kritiken zufolge. Also was wir machen, hat schon Relevanz.
Der 30 Jahre lang forschende Atomphysiker, der keine Entdeckung macht, ist vielleicht nur wenig relevant, oder? Jeder Mensch, der etwas tut, will doch der Gesellschaft nützlich sein, ihr was geben.
Windrich: Diese Gedankengänge kenne ich sehr gut. Ich könnte in meinem Alter auch noch umschulen und Lokführer werden. Sie lachen, aber das spukt konkret in meinem Kopf herum, weil eigentlich niemand in unserer Szene von diesem Gedanken frei sein kann - außer ein paar selbstverliebte Egomanen. Wir wollen alle Teil der Gesellschaft sein und etwas zurückgeben.
Auch die Komponisten? Das Klangforum Heidelberg ist ein absolutes Superensemble. Das Problem ist doch, dass sich niemand für die Musik interessiert …
Windrich: Wir können gern zuspitzen. Sollen wir es wirklich aufgeben deswegen, weil es so wenige hören wollen? Umgekehrt haben die meisten, die wir als Mainstream verstehen, bei Xenakis oder Stockhausen Anregungen erfahren.
Meinen Sie Jörg Widmann?
Windrich: Zum Beispiel. Natürlich wurde Xenakis, der ein Weltstar war, von den Orchestern nur mit Widerwillen gespielt und vom Publikum mit Widerwillen rezipiert. Aber die Säle waren voll.
Trotzdem habe ich Werke von ihm seit Jahren nicht hören können.
Windrich: Das ist auch ein Problem der Förderkultur. Ich komme ja aus dem Anträge-Schreiben nicht raus, und wenn da nicht möglichst viele Uraufführungen drinstehen, wird es nichts mit der Förderung. Das ist ein Problem für die Musik von 1950 bis 2000.
Sie hoffen also, dass die Musik nach 1945 bis heute noch eine große Zeit bekommen wird. Woher nehmen Sie diese Hoffnung?
Windrich: Die Hoffnung wider die Vernunft setzt auch Energien frei. Wenn ich die Situation der Neuen Musik rational beurteilen sollte, dann liegt der Schritt zum Lokführer nahe.
Wieso eigentlich Lokführer?
Windrich: Ach, weil meine Frau in der Lokführerausbildung arbeitet, außerdem hatte ich als Kind eine Modelleisenbahn. Also: Dass die zeitgenössische Musik in einer existenziellen Krise ist - dagegen werde ich nicht argumentieren. Aber die Verpflichtung der Musikgeschichte gegenüber bindet mich daran. Ich gebe zu: Das ist ein erzkonservatives Argument. Aber für mich ist die zeitgenössische Musik durch alle Brüche hindurch eine Fortsetzung dessen, was in den letzten 1200 Jahren geschaffen wurde. Und ich weigere mich, gern auch vernunftswidrig, diese Musikgeschichte zu den Akten zu legen - noch dazu, wo wir in einer Zeit leben, wo so vieles aufbricht. Es gibt so viele Werke, die die Musikgeschichte schlicht ignorieren, anstatt sie weiterzuschreiben. Vieles davon ist brillant gemacht. Das beobachte ich mit Faszination, aber auch mit Sorge.
Warum?
Windrich: Geschichte ist immer auch Ideengeschichte, und wenn starke Ideen wie die europäische Mehrstimmigkeit, der Kontrapunkt und die Harmonielehre gerade am Versinken sind, ist das ein Moment, in dem ich mich nicht davon abwenden möchte. Da möchte ich dabei sein und es begleiten.
Sie wollen es am Leben erhalten …
Windrich: … am Leben erhalten, ja, und wenn das nicht geht, dann wenigstens würdevoll bestatten.
Wie würde das denn aussehen?
Windrich: Indem man das Neue im Wissen des Alten aufführt. Das war auch einer der Hauptgründe, weswegen ich zunächst Assistent von Walter Nußbaum geworden bin, weil für mich nach 20 Jahren Spezialisierung auf Neue Musik das Neue oft altbekannt geworden ist und Alte Musik das eigentlich Neue und Fremde. Als ich das erste Mal Machaut gehört habe - so Fremdartiges hatte ich lange nicht gehört.
Und Sie haben Geige studiert.
Windrich: Ja, aber da hat man mit der Musik vor Bach nichts zu tun.
Aber man interessiert sich dafür.
Windrich: Nur am Rande. Als Student war ich sehr fixiert aufs Geige-Üben.
Zurück: Sie wollen ja die Nische für die Neue Musik vergrößern. Aber Sie wollen offenbar nicht an die Musik selbst ran, oder? Wird es nach Walter Nußbaum, der einen sehr avantgardistischen Zugang hat, beim Klangforum einen Paradigmenwechsel geben und sie andere Musik spielen?
Windrich: Walter Nußbaums Stärke ist, diese sehr intellektuelle Neue Musik auf kluge Weise mit der musikalischen Vergangenheit zu verknüpfen. Es ist die Quadratur des Kreises. Gesualdo wurde auch nicht breit rezipiert.
Eben, damals und heute nicht.
Windrich: Gegenfrage - wollten Sie gern auf Gesualdo verzichten?
Auf keinen Fall.
Windrich: Ich auch nicht.
Sie hatten ja vorhin gefragt: Sollen wir es deshalb lassen? Also: Entweder ich verändere die Nische selbst, oder ich versuche, die Nische bekannter zu machen. Vielleicht muss beides passieren?
Windrich: Die Frage ist, welche Vorzüge der Nische man preisgeben müsste. Ja, es ist eine extreme Außenseitermusik, die wir machen. Sie verspricht dem, der sich ihr aussetzt, Erkenntnisgewinn. Und das muss erst mal als Motivation reichen. Wenn ich Uraufführungen im großen Konzertsaal höre - das erweitert die Musiksprache kaum und ist nicht geeignet, die Musikgeschichte zu bereichern - also wenn wir davon reden, dass Musik nicht nur erheitern soll, sondern auf einer metaphysischen Ebene Trost spenden. Natürlich erreicht ein Arvo Pärt die Menschen. Damit landen wir aber sehr schnell bei einer Religionsfrage. Und das postchristliche Zeitalter ist für eine Musik, deren Geschichte so eng mit den Kirchen verbunden ist, eine sehr schwierige Situation.
Aber Pärt oder jemand wie Kancheli erreicht die Menschen mit der Ästhetik, nicht mit dem Glauben. Der Glauben führt nur zu dieser Ästhetik. Wir leben vielleicht in postchristlichen Zeiten, aber doch auch in spirituellen. Und wenn Sie von Trost sprechen, so sind da Pärt und Kancheli geeignete Spender.
Windrich: Aber Pärts Vokabular ist fast schon archaisch. Die Predigten in der Kirche von Heute klingen ja auch nicht mehr wie im 19. Jahrhundert. Aus guten Gründen.
Eigentlich wollten wir über Relevanz sprechen. Wird man relevant, wenn man das Material voranbringt, aber fast niemanden erreicht, oder sollte die Gesellschaft schon etwas davon wahrnehmen?
Windrich: Also wenn es nur nach der öffentlichen Wahrnehmung ginge, wäre außer Popkultur gar nichts relevant.
Es gibt auch Popacts vor 20 Leuten.
Windrich: Stimmt, ich habe selbst bei so etwas mitgewirkt.
Einen Popact vor 20 Leuten wird es nicht lange geben. Der stirbt. Bei Ihnen bezahlt die Gesellschaft, die Sie gar nicht wahrnimmt.
Windrich: Die Frage ist eisenhart: Wollen wir uns das leisten oder nicht? Dass ich mich selbst nicht dazu durchringen kann zu sagen, wir lassen es, ist vielleicht eine Glaubensfrage. Ich fühle mich der Musikgeschichte gegenüber verpflichtet.
Das klingt nach Selbstzweck.
Windrich: Ja, es geht um die Erhaltung eines kulturellen Erbes.
Aber am Leben erhalten hieße für mich: Eine Uraufführung pro Konzert und Werke, die ich gut finde und die wieder gespielt werden müssen. Sie aber spielen im Grunde Eintagsfliege auf Eintagsfliege.
Windrich: Ich programmiere sehr gerne Alte Musik und auch solche aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zum Beispiel Xenakis' „Medea senecae“ und Männerchöre von Schubert. Das haben wir in einem ehemaligen Autohaus aufgeführt. Ich will auch aus dem Festivalzirkus ausbrechen und den Weg in die klassischen Konzertsäle finden. Das habe ich mir vorgenommen.
Vorhin haben Sie auch über ein Verständnis zur Popkultur gesprochen. Fast alle Komponisten der Klassik hatten einen Bezug zur Volksmusik, was Popmusik letztlich global gesehen ist. Heute hat das fast niemand mehr. Werden Sie versuchen, in dieser Richtung ein neues Publikum zu triggern?
Windrich: Ein wichtiger Punkt. Mein Respekt vor der Popkultur ist groß. Ich habe einen starken Bezug zum Detroit-Techno und wenig Berührungsängste. Es kommt auf den Rahmen an. Man muss aufpassen, dass nicht beides auf der Strecke bleibt: das Komplexe der klassischen Musik und das Poppige am Pop. Auch Pop kann sehr komplex sein, hinzu kommen praktische Probleme: Klassisch ausgebildete Sänger können keinen Pop singen. Und wir haben einen Ausnahmeschlagzeuger, aber der würde sich niemals vor ein Drumset setzen.
Weiß der noch, was ein Viervierteltakt ist?
Windrich: Oh doch, aber er kann diese Musik nicht spielen.
Aber würde nicht darin der Reiz liegen? Die Rocksängerin Wallis Bird hat unlängst Musik von Hildegard von Bingen, Clara Schumann und Leuten wie Tori Amos an einem Abend gesungen.
Windrich: Ich plane mit dem Klangforum ein Chanson-Projekt mit Musik von Barbara. Die Musik und Texte sind toll, und wir werden dem alte Balladen von Machaut entgegenstellen. Ich bin sehr oft unzufrieden, wie diese Alte Musik gesungen wird, weil mich zu selten die Sprache wirklich erreicht. Dagegen ist die Rhetorik von Barbara phänomenal. Sie war auch eine der ersten Frauen, die eigene Texte vertont haben. Machaut war auch Singer-Songwriter. Das gab es danach so nie wieder - außer man würde Wagner gelten lassen. Ich hoffe, dass wir von Barbara lernen können, wie man Machaut singt.
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