Mannheim. Ein Dorf unter Wasser in einem Stausee, das ist gar nicht so selten. Manchmal tauchen die überfluteten Häuser bei längeren Trockenperioden hier und da wieder auf, meist erstaunlich gut erhalten. Es wirkt dann fast so, als sei dort die Zeit stehen geblieben.
Im Theaterstück „Der Grund. Eine Verschwindung“ vom Autoren-Duo Ivana Sokola und Jona Spreter ist es ähnlich, aber auch ganz anders. In ihrem Dorf hat sich vor fünf oder sechs Jahrzehnten eine Gruppe von Bewohnern geweigert, die Heimat zu verlassen und abgeschnitten von der Welt unter Wasser weitergelebt. Doch nun rücken die Kräne an, das Dorf soll gehoben werden.
Die Infos zum Stück
- Ivana Sokola (1995 in Hamburg geboren) und Jona Spreter (1994 in Rottweil geboren) studierten Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin.
- Mit ihrem Stück „Tierversuch“ gewannen sie 2020 den Publikumspreis des Hans-Gratzer-Stipendiums am Schauspielhaus Wien. 2023 übernahmen sie die Hausautorschaft des Theater Münster.
- Ivana Sokolas Stück „Kill Baby“ wurde 2021 mit dem Kleist-Förderpreis für junge Dramatikerinnen und Dramatiker ausgezeichnet und am Mannheimer Nationaltheater uraufgeführt. Mit „Pirsch“ gewann sie 2022 den Autor:innenpreis des Heidelberger Stückemarkts.
- Zusammen mit dem Musiker und Regisseur Pablo Lawall (1993 in Kirchheim unter Teck geboren), der an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch studierte, haben Sokola und Spreter vier gemeinsame Arbeiten umgesetzt.
- Für „Der Grund. Eine Verschwindung“ erhielten sie 2023 den Reinhold Otto Mayer Preis.
- Die ausverkaufte Uraufführung findet am Samstag, 28. September, im Studio Werkhaus statt. Weitere Aufführungen am 4., 18. und 26. Oktober (jeweils 20 Uhr).
Neben dieser Konzeption einer originellen Geschichte in einer poetischen und humorvollen Sprache prämierte die Jury des Reinhold Otto Mayer Preises 2023 „eine bereits in diesem frühen Stadium des künstlerischen Prozesses deutlich erkennbare enge Zusammenarbeit“ zwischen Autorenschaft und Regie. Das scheint kein Zufall zu sein, ist es doch schon die fünfte Zusammenarbeit des Duos mit dem Regisseur Pablo Lawall.
Kennengelernt hat sich das Trio in einem Seminar der Universität der Künste und der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. „Das Duo war schon da und hat sich mich gesucht“, beschreibt Pablo Lawall den Anfang der Zusammenarbeit. „Jona und ich haben im zweiten Jahr für eine Sommerabschlusslesung eine gemeinsame Szene geschrieben“, erinnert sich Ivana Sokola. Die Szene wurde dann das Stück „Tierversuche“, das Lawall 2020 in ein Werkstattformat brachte.
Die gemeinsame Sprache als eine Mischung aus Eigenheiten
Beim Schreiben, erzählt Sokola, habe jeder seine Eigenheiten, aber im Lauf der Zeit sei in den gemeinsamen Texten mit Jona Spreter auch eine gemeinsame Sprache entstanden. Diese Stücke klängen anders als die Solo-Texte. Ihre „dritte Sprache“ könnten sie mittlerweile ganz gut abrufen. Aber es bleibe trotzdem immer eine Mischung aus Eigenheiten. Auch wenn sie am Ende gar nicht mehr sagen könnten, wer jetzt was geschrieben habe. „Man vertraut dem anderen. Wir hatten jetzt noch nie so krasse Meinungsverschiedenheiten, dass einer sagt, ich muss es so machen, wir müssen es so behalten. Das ist zum Glück noch nie vorgekommen.“
Autoren-Duos sind eher die Ausnahme. Um so erstaunlicher ist es, dass Sokola und Spreter 2023 die erste Hausautorschaft am Theater Münster übernehmen konnten. „Tatsächlich sind wir dort meist zusammen aufgetreten. Wenn eine Person von uns mal einzeln irgendwo auftaucht, kommt mittlerweile schon die Frage, wo ist denn Jona, wo ist Ivana?“ Aber die Arbeit im Team hat noch einen anderen Vorteil, wie Sokola sagt: „Schreiben wird ja oft mit diesem Geniekult assoziiert. Es gibt eine Person, in deren Kopf alles entsteht. Das aufzubrechen und zu sagen, es ist eher eine gemeinsame Arbeit und die Impulse und Ideen von anderen Leuten, also auch die von Pablo, gehören genauso dazu, das ist uns wichtig. Außerdem ist das eine schöne neue Arbeit. Und ich hoffe, das geht noch weiter und streut sich ein bisschen, so dass man nicht immer dieses einsame Im-Kämmerlein-Sitzen hat.“
Die Produktionsbedingungen für ihr Seestück kamen dieser Methode entgegen. In der aktuellen Produktion haben sich die Drei relativ früh mit den Bühnenbildnerinnen getroffen, eine gemeinsame Konzeption gemacht und den Bühnenraum entwickelt. „Während der Text gewachsen ist, ist auch das Bühnenbild gewachsen. Dabei wurde die Gruppe immer größer“, sagt Lawall. Auch wenn der magische Moment, der dem Stück zugrunde liegt, ja schon eine theatrale Verabredung beinhaltet, waren die Probleme, die Sokola und Spreter der Regie mit der Unterwassersituation gestellt haben nicht eben klein. Doch das sei eine weitere Herausforderung dieser Konstellation, dass Autorin und Autor der Regie Aufgaben stellen, die man auf einer Bühne eigentlich nicht lösen kann. Seine Aufgabe sei es dann, Übersetzungen zu finden und Ideen in konkrete Vorgänge zu verwandeln.
Eine Gesellschaft gefangen in der Utopie
Die magisch-absurde Ausgangslage wirft im Stück erst einmal ganz alltägliche Fragen auf. Wie lebt es sich in einer Umgebung, in der es keine Zeit gibt? Wird es dem einen oder der anderen nicht langweilig? Noch dazu, weil sich in dieser Utopie nichts verändert. Und wie löst man diese Konflikte in einer Gemeinschaft, in der alle Entscheidungen gemeinsam getroffen werden? Wäre es nicht besser, einfach wieder aufzutauchen?
Natürlich gibt es in diesem Stoff auch eine ökologische Komponente. Aber Sokola und Spreter verstehen sich nicht als Diskursautoren, die Trendstücke über den schlimmen Klimawandel oder den unguten Klassismus schreiben. Bei ihnen, sagt Sokola, passiere viel über die Geschichten, die sie erzählen, oder die Konstellationen. Es gehe immer darum, wie Menschen unter bestimmten Bedingungen zusammenleben, also auch um Machtfragen. Im „Grund“ schwinge auch eine Heimatfrage mit. Wie kann man leben, wenn Dinge verschwinden, die man kennt? Damit kristallisierten sich auch die Themen Zeitlichkeit und Vergänglichkeit heraus. Was passiert mit einer Gesellschaft, die vorübergehend unsterblich war? Was tun wir mit unserem Leben, unserer Zeit?
Wichtig sei für sie, dass die Geschichten die Identifikation mit den Figuren auch dann möglich machten, wenn man mit einem bestimmten Diskus nicht komplett vertraut sei. „Wenn Jona hier wäre“, fasst Pablo Lawall diese Ästhetik zusammen, „würde er vielleicht sagen, dass er diese Geschichten schreibt und die Zeit dann immer hineinspielt, das sich das, was gerade präsent ist, in die Geschichten rein drängt. Und die sind dann da. Aber das heißt nicht, dass das Stück wegen bestimmter Themen geschrieben wird.“
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