Paris. Die Avenue des Champs-Élysées Nummer 116 ist eine mythische Adresse, jene der „Bluebell Girls“. Hinter der Tür zu diesem Gebäude an der Pariser Pracht-Straße warfen seit Jahrzehnten 40 professionelle Tänzerinnen, bekleidet überwiegend mit Pailletten, Strass und Federn, ihre langen Beine in die Luft. Ein Dutzend „Lido Boys Dancers“ ergänzte die Truppe, um den Besuchern, darunter vielen Touristen, einen rauschenden Abend zu bereiten. Das war das Versprechen des Lido, dem Pendant zum Moulin Rouge auf dem Montmartre-Hügel mit einem ähnlichen Konzept, bestehend aus laut rasselnder Musik, frivolem Tanz und viel nackter Haut. Denn die „Girls“ tanzen jeweils oben ohne.
Doch das Cabaret an der Champs-Élysées, dieser feste Bestandteil des Pariser Nachtlebens, ist bald Geschichte. Große Bestürzung hat die Ankündigung des neuen Besitzers, des Hotel-Konzerns Accor, hervorgerufen, dass von den bisherigen 184 Jobs 157 gestrichen werden. Davon betroffen sind in erster Linie die Tänzerinnen und Tänzer. Stattdessen soll ein Musiktheater mit einer, wie es in einer öffentlichen Mitteilung von Accor hieß, „ehrgeizigen neuen künstlerischen Linie“ entstehen, um ein neues Publikum anzuziehen.
In den vergangenen zehn Jahren waren die Verluste des Lido auf 80 Millionen Euro angewachsen. Eine Modernisierung im Jahr 2015 brachte nicht die erhoffte Kehrtwende. Vor allem die Corona-Pandemie mit wiederholten monatelangen Schließungen und einem Einbruch des Tourismus war ein herber Schlag für das Varieté-Theater: Im Jahr 2020 fielen die Umsätze um 80 Prozent. Die staatlichen Hilfen in Höhe von 700 000 Euro konnten die Verluste demnach nicht ausreichend auffangen. Bis zuletzt gab es nur einen eingeschränkten Betrieb. Als der Accor-Konzern Ende 2021 das hoch verschuldete Cabaret von der Sodexo Group aufkaufte, schien bereits klar, dass es nicht einfach so weitergehen würde. Dabei hatte das Lido noch im Sommer sein 75-jähriges Bestehen gefeiert.
Auch wenn weiterhin Musicals zur Aufführung kommen, gibt es künftig keine permanente Truppe mehr, ebenso wenig wie die Kombination mit einem Abendessen als „Dinner-Show“ mit viel Champagner, wie sie auch das Moulin Rouge anbietet. Erhebliche Umbauarbeiten sind geplant. Wird sich der Name ebenfalls ändern? Lido spielt auf die gleichnamige Insel vor Venedig an, denn als es sich noch um ein Luxus-Schwimmbad handelte, fuhren kostümierte Kellner sogar auf Gondeln auf dem Wasser, um die Kundschaft, die Reichen und Schönen von Paris, zu bedienen. 1928 eröffnet, wurde das Bad 1946 von den Brüdern Joseph und Louis Clérico in ein Revue-Theater umgewandelt. Dieses befand sich damals bereits an der Champs-Élysées, zog aber 1977 um in die aktuelle Adresse, wo es einen Panoramasaal mit Platz für 1150 Gäste auf zwei Etagen gab.
Immer wieder war es dem Lido gelungen, neben dem üblichen Programm Berühmtheiten auf die Bühne zu locken und damit von sich reden zu machen: Edith Piaf, Marlene Dietrich, Josephine Baker, die Kessler-Zwillinge oder auch Johnny Hallyday traten hier auf. Rund 10 000 Tänzerinnen hatten in den vergangenen 76 Jahren ein Engagement im Lido. Der Name „Bluebell Girls“ spielt auf die stahlblauen Augen ihrer Gründerin, der irischen Tänzerin Margaret Kelly, und deren Spitznamen „Miss Bluebell“ an. Die aktuelle Truppe wird noch bis Frühjahr bezahlt. Einem Sprecher des Lido zufolge laufen mit den Gewerkschaften Gespräche über ein sozialverträgliches Ausscheiden der Beschäftigten.
Dennoch bildete sich rasch Widerstand gegen die Schließung der legendären Stätte. „Es ist ein Verlust und eine Schande, diesen legendären Pariser Ort, der in der ganzen Welt bekannt ist, aufzugeben“, reagierte der Tänzer und Choreograph des Lido, Bruno Vandelli, in den sozialen Medien. Er würdigte die „Tänzer, Tänzerinnen und all die Menschen, die an diesem Ort arbeiten, der seit 1946 die Nächte von Paris erhellt“.
Mit seiner Bestürzung ist er nicht alleine: Bei einer Petition wurden inzwischen mehr als 52 000 Unterschriften gesammelt. „Das Lido war immer ein Synonym für Schönheit, Eleganz und eine große Show auf französische Art und es ist eine der Perlen der französischen Varieté-Theater und von Paris bei Nacht“, heißt es darin. Die Verfasser schreiben, sie wollten nicht mit ansehen, wie die „Bluebell Girls“ und das gesamte Team einem „simplen Theatersaal, der banale Musicals anbietet“ weichen: „Wenn Sie wollen, dass Paris Paris bleibt, unterschreiben Sie!“ Aus heutiger Sicht erscheint es allerdings wahrscheinlich, dass Paris zwar Paris bleibt, das Lido aber nicht das Lido.
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