Berlin. Ein Mann indigener Herkunft steht barfuß auf einem sandigen Feld und schleudert einen Speer. Sein Oberkörper ist frei, seine Hüfte von einem Tuch bedeckt. Um ihn herum stehen weiße Männer in Anzügen. Sie starren den Speerwerfer an und wirken skeptisch.
Dieser sogenannte Wettkampf gehörte im August 1904 – also vor 120 Jahren – zum Rahmenprogramm der Olympischen Spiele im US-amerikanischen St. Louis. Es waren die „Anthropologischen Tage“ oder wie es die Organisatoren ausdrückten: „Das erste sportliche Treffen, an dem ausschließlich Wilde teilnehmen“. Die Organisatoren wollten damit zur Schau stellen, dass Schwarze und indigene Menschen nicht nur geistig, sondern auch körperlich minderwertig gegenüber Weißen seien.
Die dritten Olympischen Spiele der Neuzeit waren 1904 an die Weltausstellung von St. Louis angebunden. Zu jener Zeit waren „Völkerschauen“ in Nordamerika, Europa und Japan noch verbreitet. In St. Louis wurden angeblich authentische „Eingeborenendörfer“ für 3000 indigene Menschen gebaut. Viele von ihnen wurden seit Jahren von einem „Menschenzoo“ zum nächsten gebracht.
Indigene bekamen die Regeln nur auf Englisch erklärt
Die Organisatoren rekrutierten in diesen Dörfern rund 100 Männer für ihre Schaukämpfe. Sie kamen aus Patagonien, Zentralafrika oder von den Philippinen. Die Indigenen nahmen am Kugelstoßen, Laufen oder Weitsprung teil, aber auch, wie es hieß, in „wildnisfreundlichen“ Disziplinen: im Baumklettern, Tauziehen oder Bogenschießen.
„Die Gastgeber schufen einen manipulierten Wettkampf“, sagt der US-amerikanische Autor Jules Boykoff, der das Thema erforscht. „Sie erklärten den Teilnehmern die Regeln nur auf Englisch und ließen ihnen keine Zeit zur Vorbereitung.“
In seinem Buch „Power Games“ beschreibt Boykoff auch Details. Etwa, dass einige indigene Teilnehmer bei einem Laufwettbewerb auf ihre langsameren Kollegen warteten. Es ging ihnen nicht ums Gewinnen, sondern darum, gemeinsam ins Ziel zu kommen. Boykoff sagt: „Für die Organisatoren war das eine Bestätigung für die Rückständigkeit der sogenannten Wilden.“
Die damaligen Verantwortlichen arbeiteten mit Anthropologen der Weltausstellung zusammen. Die Forscher konnten sich dadurch teure Reisen auf andere Kontinente ersparen. Stattdessen vermaßen und kategorisierten sie die Teilnehmer direkt vor den Schaukämpfen.
Mit ihren pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen und Fotografien wollten die Eliten ihr Konzept der „Menschenrassen“ rechtfertigen, betont Tahir Della von der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland: „Sie wollten zeigen, dass der globale Süden angeblich unterentwickelt ist. So wollten die europäischen Kolonialmächte die weitere Ausbeutung rechtfertigen.“
In der Hochphase der „Völkerschauen“ von 1875 bis 1940 wurden weltweit rund 25 000 schwarze und indigene Menschen zur Schau gestellt. Anfangs wurden viele von ihnen verschleppt, später wurden sie mit Hilfe von Agenten, Tierhändlern und Konsulaten angeworben. Die „Völkerschauen“ erreichten oft ein Millionenpublikum und erzielten hohe Gewinne – auch mit sportlichen Schaukämpfen.
Die Kolonialzeit war eng mit der Entwicklung des modernen Sports verknüpft. Funktionäre aus jener Zeit wie IOC-Präsident Pierre de Coubertin oder FIFA-Präsident Jules Rimet wollten Menschen in Afrika und Asien durch den Sport in ihren Augen zivilisieren. Die idealisierenden Reden von „Völkerverständigung“ – stets aus europäischer Perspektive – wirken bis heute nach.
Fehlendes historisches Wissen in den Ex-Kolonialländern
Das gilt auch für Schaukämpfe wie die der „Anthropologischen Tage“, sagt Della: „In aktuellen Erdkunde- oder Geschichtsbüchern sehen wir oft noch die Darstellung von Hütten und Wildnis, aber nicht von Menschen. Eine Verzerrung der Wirklichkeit.“ In Ländern früherer Kolonialmächte wie Großbritannien, Frankreich oder Portugal steht die Aufarbeitung von Sklaverei und Ausbeutung noch am Anfang. Auch Sportverbände blicken kaum selbstkritisch zurück. Die Folge: mangelndes historisches Wissen.
Ein Beispiel: Bei der Eröffnungsfeier der Spiele in Paris feierte sich Frankreich als Nation der Vielfalt und Hochkultur – mit spektakulären Bildern vor historischen Gebäuden. Doch Expertinnen wie die Journalistin Shahla Omar sahen etwas anderes: Die Sängerin Axelle Saint-Cirel sang bei der Eröffnung die französische Hymne vom Grand Palais aus. „Das sah wunderschön aus – oberflächlich betrachtet“, so Omar „Was viele nicht wissen: Der Grand Palais wurde für die Weltausstellung 1900 gebaut. Damals wurden auch dort Völkerschauen abgehalten.“
Etliche indigene Menschen, die 1904 in St. Louis vorgeführt wurden, kehrten nie wieder nach Hause zurück. Ihre Leichen wurden untersucht und in Museen ausgestellt. Und so dauert auch der Schmerz ihrer Nachfahren weiter an.
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