Leverkusen. Wie von den meisten Experten prognostiziert, konnte Bayer Leverkusen seinen Titel als Deutscher Meister nicht verteidigen. Mit der souveränen Vizemeisterschaft sowie der nie gefährdeten Qualifikation für die Champions League erfüllte die Werkself allerdings immerhin ohne Probleme die Erwartungen. Zudem war der erneute Gewinn des DFB-Pokals möglich, ein falscher Matchplan jedoch führte zum unnötigen Aus im Halbfinale bei Arminia Bielefeld. Meistertrainer Xabi Alonso ist nun weg, wichtige Spieler auch - in Leverkusen sind die Uhren wieder auf null gestellt.
Bayer Leverkusen: Wie ist der neue Trainer Erik ten Hag zu bewerten?
Durch die Zeit bei Manchester United hat der Ruf von Erik ten Hag gelitten. Dabei konnte er auch mit dem seit einigen Jahren chaotisch geführten englischen Rekordmeister Erfolge erzielen. Vor zwei Jahren gewann United noch den Ligapokal und beendete die Premier League als Dritter, ein Jahr später holten die „Red Devils“ dann den FA-Cup. Platz acht jedoch brachte ten Hag in die Kritik, ein Fehlstart in die vergangene Saison kostete ihn auf Rang 14 liegend schließlich den Job.
Natürlich lag der Niederländer mit der einen oder anderen Personal- und Taktikentscheidung daneben, zuvorderst aber bewältigte er lediglich die Mängel in dem von planlos agierenden Besitzern konfus zusammengestellten Kader. Sein Nachfolger Ruben Amorim landete am Ende sogar nur auf dem 15. Platz. Was mit einem homogenen Kader möglich ist, hatte ten Hag zuvor bei Ajax Amsterdam bewiesen. Von 2019 bis 2022 holte er dreimal die Meisterschaft und zweimal den Pokal.
Der 55-Jährige steht gleichermaßen für gepflegten Ballbesitzfußball wie für temporeiches Konterspiel und kann somit Alonsos Philosophie fortführen. Zudem gilt ten Hag als Talententwickler: 2014 führte er die U 23 von Bayern München zur Regionalliga-Meisterschaft. Ein ganz später Treffer von Fortuna Köln verhinderte damals im Aufstiegsspiel den Sprung in die 3. Liga. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass ten Hag lediglich die 1b-Lösung war. Wunschkandidat Cesc Fabregas erhielt jedoch vom italienischen Erstligisten Como 1907 keine Freigabe.
Vor welchen Herausforderungen stehen Trainer und Mannschaft in Leverkusen?
Mit Torhüter Lukas Hradecky (AS Monaco), Abwehrchef Jonathan Tah (FC Bayern), Stratege Granit Xhaka (AFC Sunderland) sowie Regisseur Florian Wirtz (FC Liverpool) verließ die komplette zentrale Achse den Verein. Ihre Abgänge hinterlassen riesengroße Löcher in Sachen Stabilität, Balance und Kreativität.
Überdies sind ohne Wirtz sowie dem gleichfalls nach Liverpool gewechselten Außenbahnspieler Jeremie Frimpong enormes Tempo und individuelle Dribbelstärke verloren gegangen. Hinzu kommt ein nicht zu unterschätzender Aspekt: Mit Hradecky, Tah und Xhaka sind Sprachrohre, kritische Geister und Mahner abhandengekommen. Die Teamhierarchie auf dem Platz und in der Kabine ist komplett zerfallen.
Wer muss die neue Achse in Leverkusen bilden?
Gerade zu Beginn der Saison wird vieles auf den Schultern des neuen Kapitäns Robert Andrich und des Topstürmers Patrik Schick lasten. Und die beiden sind sich ihrer Verantwortung durchaus bewusst. Allerdings sollten sich nun auch Alejandro Grimaldo sowie der argentinische Weltmeister Exequiel Palacios stärker in die Pflicht nehmen. Für die Kabine ist der sportlich nicht mehr allererste Wahl darstellende gebürtige Heidelberger Jonas Hofmann jetzt ein Stück weit wichtiger geworden. Im Tor sollte Mark Flekken ob seiner Erfahrung aus der Premier League sofort Autorität ausstrahlen.
Wie verlief die Vorbereitung auf die neue Saison bei Bayer Leverkusen?
Holprig. Der Umbruch im Kader ist nicht nur quantitativ, sondern besonders qualitativ ein enormer. Dass der Verein sein Trainingslager vor diesem Hintergrund in Brasilien abhielt, erschien da kontraproduktiv. Lange Flüge, Zeitverschiebung sowie viele repräsentative Termine für den Verein haben wertvolle Zeit für fußballspezifische Dinge gekostet.
Immerhin dürften Sonne und Strand von Rio de Janeiro die Integration der inzwischen zehn Zugänge aus sieben Nationen erleichtert haben. Niederlagen gegen die U 20 von Flamengo (1:5) und gegen den FC Chelsea (0:2) belegen aber die fehlenden Automatismen. Darüber täuschten auch die schmalen Erfolge gegen den VfL Bochum (2:0), Fortuna Sittard (2:1) und den Pisa SC (3:0) nicht hinweg.
Was ist von der Werkself zu erwarten?
Der neue Kader lädt durchaus zu Fantasien ein. Der Titelgewinn 2024 muss nicht der einzige bleiben. Trotz ihrer jungen Jahre verfügen die neuen Leverkusener Akteure wie Verteidiger Jarrell Quansah (FC Liverpool), Mittelfeldspieler Malik Tillman (PSV Eindhoven) oder Rechtsaußen Ernest Poku (AZ Alkmaar) schon über Qualität und haben dennoch enormes Entwicklungspotenzial.
Zudem könnten weitere Zugänge folgen. Noch steht Leverkusen bei einem Transferplus von 92,35 Millionen Euro. Allerdings müssen zumindest ausländische Zugänge ein neues Land, eine neue Kultur, neue Sprache sowie die neue Liga erst adaptieren. Eine Hierarchie würde sich bei jetzt schon 80 Prozent Legionären nur langsam bilden. Realistisch betrachtet scheint es ein Übergangsjahr zu werden. Mit Platz vier wäre es ein erfolgreiches.
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