Am Beispiel Wertheim

Wenn aus Rivalen Verbündete werden

Die Fußballlandschaft in Wertheim verändert sich: Spielgemeinschaften ersetzen alte Rivalitäten, während die Anzahl der Teams sinkt.

Von 
Kai Grottenthaler und Michael Fürst
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2016: Voller Einsatz beim Stadtmeisterschaftsduell zwischen der SV Viktoria und dem SV Nassig. © Uwe Bauer

Die Fußballlandschaft hat sich verändert... und sie verändert sich weiter... Die in Ermangelung an Aktiven weiter zunehmende Zahl an Spielgemeinschaften sorgen dafür, dass aus einstigen Fußball-Rivalen Verbündete, wenn nicht sogar Freunde geworden sind oder noch werden. Ein Fakt: Seit 2000 hat sich die Anzahl der Mannschaften im Fußballkreis TBB von 95 auf 55 verringert.

Symbolisch für viele Fußballregionen steht die Stadt Wertheim, die wir für diese Beilage unter die Lupe genommen haben. Spielernamen wie Heiko Hörner, Thomas Dworschak, Thomas Spachmann, Peter Lutz, Volker Mohr, Peter Fischer, Stefan Goldschmidt, Adam Szabo oder Billy Kemper kennt man in der gesamten Region. Nicht zuletzt hat die Stadt mit Thomas Reis und Philipp Ochs nicht nur zwei Profis hervorgebracht, sondern mit Josef Sattmann auch einen Spieler, der mit zur WM 1954 gefahren wäre, hätte er nicht einen schweren Verkehrsunfall gehabt.

Wie unter einem Brennglas lässt sich die Entwicklung des Fußballs an der Wertheimer Stadtmeisterschaft erkennen. Noch Mitte der 90er-Jahre war mit 16 Teams ein neuer Teilnehmerrekord erzielt worden. Elf davon sind inzwischen in Kooperationen verschiedener Art aktiv, ein weiteres ist ganz verschwunden. Während neue Allianzen entstanden, sind viele Vereine weiterhin stolz auf ihre Eigenständigkeit. „Über Erfolge gegeneinander, vor allem bei der Stadtmeisterschaft, redete man ein ganzes Jahr lang“, sagt Michael Hoffmann. Der Torhüter und spätere Torwarttrainer (unter anderem Würzburger Kickers, TSV Höpfingen und jetzt Kickers DHK Wertheim) stammt vom SC Viktoria, spielte aber auch für den FC Eichel.

Ein erster Umbruch setzte um die Jahrtausendwende ein. Mit dem SV Dertingen/Bettingen und dem FC Dörlesberg/Reicholzheim 2000/01 sowie der SV Viktoria Wertheim ein Jahr später gingen gleich drei neue Bündnisse an den Start. Miteinander statt gegeneinander. Ein Vierteljahrhundert ist die SV Viktoria Wertheim inzwischen alt und hat bereits eine bewegte Geschichte vorzuweisen. Michael Hoffmann meint heute: „Der Zusammenschluss kam fünf Jahre zu spät. Beide Vereine waren um die Jahrtausendwende schon geschwächt.“ Und Billy Kemper, der seit 2006 in den USA lebt und ein Ur-SV‘ler ist, meint heute: „Eigentlich hätten die Viktorianer zur SV kommen müssen, weil es bei denen schon abwärts ging.“

Nach Zusammenschluss: Nur noch einmal Verbandsliga

Aber: Nach dem Zusammenschluss der beiden stolzen „Fußball-Schwergewichte“ SC Viktoria und SV Wertheim führte der Weg 2003 bis in die Verbandsliga. Es sollte die bisher einzige Verbandsliga-Saison einer Wertheimer Mannschaft in diesem Jahrtausend bleiben. Denn es folgten zwei turbulente Phasen, die in diesem Fall wohl eher als Tal- und Bergfahrten bezeichnet werden können. Nach dem sang- und klanglosen Landesliga-Abstieg 2009 folgte binnen zwei Jahren der Absturz in die A-Klasse. Doch fast genauso schnell war die SV Viktoria innerhalb der nächsten drei Jahre auch wieder in der Landesliga zurück. Vor gerade einmal drei Jahren dann der zweite Absturz: Rückzug während der noch laufenden Runde. Ein Neuaufbau in der B-Klasse war nötig – und der gelang. Nach der A-Klassen-Meisterschaft ist die SV Viktoria jetzt immerhin wieder in der kreishöchsten Spielklasse angekommen.

Größter Rivale im Stadtgebiet ist seit jeher der SV Nassig. 19 der vergangenen 25 Jahre spielte Nassig in der Landesliga – und damit zwei mehr als die SV Viktoria (inklusive des letzten Jahres der SC). Kein Wertheimer Verein ist sportlich so von Kontinuität gekennzeichnet wie der SV Nassig. Nun geht der SVN in seine 13. Landesliga-Saison in Serie. Wie die SVV auch hat der SVN drei Teams im Spielbetrieb. Um in dieser Breite auflaufen zu können, waren jedoch beide Schwergewichte auf „Zuwachs“ angewiesen. Anfang des Jahrtausends „schluckte“ Nassig den TSV Sonderriet, der 2001 seine letzte eigenständige Saison in der C-Klasse absolvierte. 20 Jahre lang tauchte der Name dann noch als „Anhängsel“ bei der zweiten Garnitur des SVN auf, ehe er völlig verschwand.

Ein ähnliches Schicksal ereilte teilweise den SC Grünenwört, der in der kommenden Saison aber sein offizielles Comeback gibt, nämlich in Gemeinschaft mit Viktoria III. Schon von 2008 bis 2014 probierte sich der SC wieder an einer Eigenständigkeit in der C-Klasse.

Der SV Mondfeld, bis 2008 Spielpartner des SC, hat sich derweil geografisch in die andere Richtung orientiert. Seit 2011 zunächst in Gemeinschaft mit dem SC Boxtal, bildet man mit dem FC Rauenberg nun zusammen die SG RaMBo, wodurch auch dem Mondfelder Fußball wieder erfrischendes Leben eingehaucht wurde.

Wie sich die Kräfteverhältnisse im Laufe der Zeit verschieben können, zeigt sich beim VfB Reicholzheim und dem FC Dörlesberg. Als frisch gebackener Stadtmeister und Bezirksliga-Absteiger ging der FCD bei der Fusion vor 25 Jahren mindestens auf Augenhöhe in die Spielgemeinschaft. Erst 2008 übernahm der VfB offiziell die federführende Rolle, ehe „Dörlesberg“ vor fünf Jahren schließlich komplett aus dem Tablon verschwand. Mit dem B-Klassen-Aufstieg 2016 begann eine inzwischen gut zehnjährige Erfolgsgeschichte, die den VfB sogar fast in die Landesliga geführt hätte. Sowohl 2019 als auch 2023 scheiterte er jedoch in der Aufstiegsrelegation.

Und wer erinnert sich noch an Italo-Sport Wertheim? Genau 20 Jahre lang bereicherte die italienische Mannschaft den Spielbetrieb und wurde 2001 sogar C-Klasse-Meister. 2005 war dann aber Schluss.

In „Wertheim Ost“ gab es in den letzten 25 Jahren diverse Kon-stellationen. Seit 1997 schon trat der TSV Kembach/Höhefeld an und sorgte Anfang der 2000er-Jahre in der zweijährigen Landesliga-Ära für Furore. Nach vielen Jahren als feste Größe in der Kreisliga und der A-Klasse folgte 2018 schließlich die Gründung eines neuen Vereins: Den Kickers DHK Wertheim. Hier fanden auch die Fußballer des SV Dertingen ihre neue Heimat.

Aus Dertingen kommt Martin Hergenhan, der im Herbst seiner erfolgreichen Karriere (unter anderem Heidingsfeld, VfB Stuttgart II, FV Lauda) Spielertrainer beim SSV Urphar/Lindelbach war. Er sagt: „Die alten Rivalitäten gibt es nicht mehr. Da viele in der Jugend schon bei „Dorfkickers Mainschleife“ zusammenspielen, kennen die keine Derbys mehr.“ Er sieht nun den Vorteil, dass alle A-Jugend-Spieler der Dorfkickers, gegründet 2008, in eine Herrenmannschaft, nämlich die der Kickers DHK kommen. Mit gebündelten Kräften kann nun wieder Kreisliga-Fußball geboten werden, zumal „der Osten“ auch über den Fußball hinaus eng miteinander verbunden ist.

Auch die Dertinger können auf eine wechselhafte Geschichte zurückblicken. Nach 18 eigenständigen Bezirksliga-Jahren, unterbrochen durch die einzige Landesliga-Spielzeit der Vereinsgeschichte in der Saison 1987/88, ging man ab 2000 neun Jahre lang gemeinsam mit den Bettingern auf Torejagd. Dann allerdings trennten sich die Wege wieder – und für den SVD durchaus erfolgreich. Vom Ende der B-Klassen-Tabelle führte der Weg von 2009 bis 2017 bis auf den fünften Platz der Kreisliga. Doch ein Jahr später war das Ende als eigenständige Mannschaft besiegelt.

Dass ein Weg nur selten geradlinig ist, zeigt sich auch beim TSV Bettingen. Nach der Liaison mit dem SV Dertingen probierte es der TSV von 2010 bis 2016 nochmals auf eigene Faust. Es blieb ein kurzes, aber lohnenswertes Intermezzo der Eigenständigkeit. Danach verschlug es die Bettinger in umliegende Vereine, ehe man sich vor zwei Jahren offiziell dem SSV Urphar/Lindelbach anschloss. Der SSV hatte Anfang der 2000er-Jahre seine erfolgreichsten Jahre und schnupperte als zweifacher Bezirksliga-Vizemeister sogar zweimal an der Landesliga. Seit dieser Saison ist die „Schicksalsgemeinschaft“ nun so gut wie vollendet: Mit der Bildung der SpG DHK II/Urphar/Lindelbach befindet sich „Wertheim Ost“ nun auch im Herrenfußball unter einem Dach – und hat für sein fußballerisches Tun nun sieben Sportplätze zur Verfügung...

Eines lässt sich zwischendurch schon konstatieren: Eine dauerhafte „Rolle rückwärts“, sprich Rückkehr zur Eigenständigkeit, gab es bisher nicht – und wird es wohl auch nicht geben. Fußball-Nostalgiker mögen vielleicht die „guten, alten Derbys“ mit Lokalkolorit vermissen. Frotzeleien und Beschimpfungen, aber auch das gemeinsame Bierchen nach Spielende inklusive. Michael Hoffmann erinnert sich: „Es gab Kneipen, da waren nur SV‘ler drin und Kneipen, da waren nur Viktorianer drin. Und wenn die vom einen Verein spät in der Nacht in eine Disco kamen, sind die vom anderen Verein, die schon da waren, wieder rausgegangen.“

Zum Verteilungskonflikt bedarf es keiner Rechenkünste

Zahlen lügen nicht. Schon seit mehreren Jahren stellen alle Wertheimer Vereine pro Jahrgang insgesamt nur maximal vier, teilweise auch nur zwei Teams. Wohlgemerkt inklusive der über die Gemarkungsgrenzen hinaus gehenden Spielgemeinschaften. In der vorletzten Saison gab es übrigens nur noch eine gemeinsame A-Jugend von Dertingen bis Rauenberg. Diese Spieler müssen sich anschließend auf alle Herrenteams verteilen. Es braucht keine großen Rechenkünste, um hier einen Verteilungskonflikt zu erkennen. Oder um es etwas platt zu sagen: Je weniger Junge nachkommen, umso größer das „Hauen und Stechen“. Die begehrten Nachwuchskicker haben die Trümpfe in der Hand. Da unterscheidet sich der Fußballmarkt gar nicht so sehr vom Arbeitsmarkt.

Insgesamt vier Landesligisten hat die Stadt Wertheim in diesem Jahrtausend hervorgebracht. Neben den drei oben Genannten zählt noch der FC Eichel zu dem erlauchten Kreis. Die Saison 2011/12 sollte jedoch die einzige Landesliga-Saison der Vereinsgeschichte bleiben. Am Main kennt man das „Auf und Ab“ im Amateurfußball gut. Nach dem Abstieg in die B-Klasse 2001 folgte der Durchmarsch in die Spitzengruppe der Kreisliga inklusive Kreispokalsieg 2004, sodass diese Jahre eine der vier erfolgreichen Epochen der Vereinsgeschichte bilden. Inzwischen geht der FCE in sein neuntes Jahr in der A-Klasse in Folge.

Auch der bayerische Nachbar durfte sich Landesligist nennen. Im Jahr 2002 begann eine langjährige Erfolgsserie des TSV Kreuzwertheim: Zwölf Jahre lang verbesserten sich die Bayern (zumindest tabellarisch) sukzessive von einer Saison zur nächsten. Als der TSV 2006 endlich die B-Klasse verlassen konnte, führte der Weg in den nächsten sechs Jahren bis in die Landesliga, wo sich „Kreuz“ fünf Jahre halten konnte. Seitdem gehört der TSV fast durchgehend zum Inventar der Kreisliga, gleichwohl ein Anknüpfen an die richtig erfolgreichen Zeiten wohl schwierig werden wird.

Anders stellt sich die Lage bei Türkgücü Wertheim dar. 1993 gegründet, pendelte Türkgücü - mit Ausnahme zweier Jahre – bis zur Saison 2017/18 lange zwischen den zwei untersten Spielklassen, damals noch B- und C-Klasse. Dann jedoch gelang der Aufstieg in die A-Klasse, zwei Jahre später sogar der Sprung in die Kreisliga. Zudem verfügt Türkgücü seit nun zehn Jahren über eine eigene zweite Mannschaft. Gespielt wird auf dem einstigen Vereinsgelände der SV Wertheim.

Länger als in anderen Regionen hat sich die Wertheimer Fußballlandschaft ihre Vielfältigkeit bis heute weitgehend bewahrt. Mit 18 Mannschaften – die Stadtgrenzen überschreitenden Spielgemeinschaften eingeschlossen – werden auch in der kommenden Saison noch vergleichsweise viele Teams teilnehmen. Und doch: An der diesjährigen Stadtmeisterschaft nahmen – trotz Erweiterung auf Nachbargemeinden – lediglich neun Teams teil. Man muss kein Prophet sein, um zu prognostizieren, dass das Ende der Fahnenstange damit noch nicht erreicht ist.

Beim Thema Stadtmeisterschaft hat auch Billy Kemper seine besondere Geschichte: Er hatte als letzter Torschütze beim Finalsieg gegen Bettingen zwei Michael-Jackson-Karten für Würzburg gewonnen; „doch die musste ich dann auf Anweisung von Wolfgang Ballweg mit einem Bettinger teilen“.

Was wenige wissen: Die beiden Wertheimer Goalgetter Billy Kemper und Heiko Hörner waren auf dem Wartberg lange Zeit Nachbarn.

In der Saison 2024/25 gab es in den A-, B- und C-Jugenden pro Altersklasse zusammengerechnet noch drei Mannschaften aus den genannten Vereinen. „Zu meiner Zeit bestand eine ganz Jugendliga nur aus Wertheimer Mannschaften“, weiß Martin Hergenhan.

Und wie wird der Wertheimer Fußball in 25 Jahren aussehen? Wird er weiter als Brennglas für eine Gesamtentwicklung stehen?

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