Würzburg. Das oberbayerische Weilheim, gut 20 000 Einwohner zählend, war in den 1990er Jahren das Epizentrum deutschen Indie-Rocks. Die Brüder Markus und Micha Acher, in ihrer Jugend blasmusikalisch ausgebildet, schufen mit „The Notwist“ eine Band, die international für Furore sorgte. Und ein Umfeld, das etliche andere talentierte Musikerinnen und Musiker anzog. Nach und nach entstand ein Geflecht von miteinander verbundenen, ineinander verschlungenen Projekten – vom „Tied & Tickled Trio“ über „Console“ bis zu „Lali Puna“.
„The Notwist“ feiert in diesem Jahr 35. Geburtstag, und auch wenn das kein Anlass für die jüngste Tour der Band sein dürfte, so vielleicht doch ein netter Aufhänger: Beim Würzburger Hafensommer ließ sich erleben, welche musikalischen Formen und Formeln das Musiker-Kollektiv in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat und wie es diese immer wieder überraschend variiert. Gitarre, Bass, Schlagzeug, mehrere Synthesizer, elektronische Devices, Plattenspieler, Bassklarinette – fünf Musiker und eine Musikerin setzen die höchstkomplexen, höchsteklektizistischen Klanggebilde von „The Notwist“ live um. Das Besondere dieser Band war fast von Anfang an, dass Micha und Markus Acher den Geist ihrer frühen Hardcore-Tage (beeinflusst von Bands wie „Hüsker Dü“ oder „Dinosaur Jr.“) mit allen möglichen zeitgenössischen Elektronik-Experimenten verbanden.
Clicks&Cuts-Elemente, filigranes Gefrickel und Dub-Grooves verlinkt mit Krautrock-Anleihen und Shoegaze-Attitüde, dazu noch ein unfassbar sicherer Instinkt für melancholisierende Melodielinien – das gab es in den 1990ern auch bei Bands wie „Stereolab“, „Spiritualized“ oder „My Bloody Valentine“, aber selten so gewagt und radikal wie bei „The Notwist“. Das wird nochmals beim Würzburger Konzert deutlich: Eine sanft-flirrende Midtempo-Nummer kann sich in ein Noise-Gewitter entladen oder sogar in eine Free-Jazz-Improvisation übergehen; oder endlos lang einem Beat folgen und dabei etwas geradezu Tranceartiges entwickeln. Markus Achers Gesang schwebt dabei sanft und sentimental und zerbrechlich durch die Nacht; gegenüber dem dominierenden Rock-Machismo früherer Jahre war die schöne Waschlappenhaftigkeit von Sängern wie J. Mascis, Kevin Shields oder eben Markus Acher eine Erlösung vom Diktat des Testosterons.
Dass „The Notwist“ unbestritten die deutsche Indie-Band mit größtem internationalem Appeal sind, zeigt sich am Erfolg in Japan oder dem Respekt, den sie in den USA genießen. Oder auch daran, dass auf dem letzten, noch zu Corona-Zeiten entstandenen Album „Vertigo Days“ Gastmusiker wie die gefeierten jungen Jazzstars Angel Bat Dawid oder Ben LaMar Gay mit von der Partie sind. In Würzburg geht es allerdings nicht nur um die jüngsten Veröffentlichungen, sondern zurück bis in die Geburtsstunde der Band – für einen kurzen Augenblick schwelgt nur das Trio aus Gitarre, Bass, Schlagzeug in einer Indie-Reminiszenz aus den frühen 1990ern, eine Klang-Eruption.
Nostalgie kommt hier trotzdem nicht auf. Und heiteres Entertainment gibt es schon gar nicht. Dafür aber eine unbeschreibliche Intensität auf der Bühne, die sich unweigerlich aufs Publikum überträgt. Spätestens als einige Stücke vom 2002 erschienenen Album „Neon Golden“ gespielt werden, hält es viele nicht mehr auf ihren Plätzen.
„The Notwists“ Auftritt beim Hafensommer mag für einen großen Teil der Zuhörer ein Ausflug in die Vergangenheit gewesen zu sein, aber für die Band sind auch alte Songs Material für die Zukunft. Sie werden nicht verwaltet, sondern es wird mit ihnen gespielt. Wer übrigens an diesem Abend nicht live dabei war, kann das Konzert demnächst auf BR 2 nachhören. Ohren aufhalten.
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